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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

sein Heil zu suchen. In wenigen Jahren ist er Arzt. Er erweitert seinen Gesichtskreis durch eine Reise und kehrt dann heim, um seine Kunst im Dienste der Kranken und Gebrechlichen zu erproben. Da steht an der Stelle des einstigen Klosters Mariagnaden ein stattliches Irrenhaus, dessen Leiter dem Vater Odilo’s ein getreuer Freund gewesen ist. Die Wahl ist schnell getroffen. Der junge Arzt widmet sich den armen Creaturen, welche der Wahnsinn gefangen hält. Und wie schmerzlich ihm auch die tägliche Begegnung sein mag mit diesen irren Seelen, welche Habgier, verschmähte Liebe, Größenwahn oder unbefriedigter Wissensdrang aus ihrer natürlichen Bahn gelenkt haben, es ist ein Lohn für ihn vorhanden: die Liebe zu Angelica, der Tochter seines Meisters, und ihre Gegenliebe.

Es wäre schön, wenn damit Odilo’s Leidensgeschichte endete, aber so gut wird es den Menschen nur selten. Neben jedem Glücke wandelt im Leben ein mißgünstiger Dämon. In einer Nacht wird Odilo von einem Blutsturz befallen, und nun ist sie da, die furchtbare Erinnerung an den Tod seines Vaters und an die Vererbung der Lungensucht. Ein innerer Kampf beginnt, so schwer und schwerer als Stillehalten im Kugelregen der Schlacht. Entsagung oder Vererbung eines frühzeitigen Todes – die Wahl ist tödtlich, aber sie muß getroffen sein, und die Entscheidung fällt gegen die Liebe. Was kann weiter folgen? Odilo stirbt, nachdem er in seinem Berufe noch erhebende Probe seines Opfermuthes abgelegt, unter den Klängen seines Lieblingsliedes, das Angelica singt.

Das ist der Roman eines edlen, aus dumpfer Verirrung zum Lichte emporsteigenden Lebens, welchen Oscar von Redwitz erzählt, – in Versen erzählt, ohne den Leser auch nur für einen Augenblick zu ermüden. Die Kunst wäre groß, wenn nichts weiter gesagt zu werden brauchte. Sie ist doppelt groß, weil die Erzählung nicht Selbstzweck, sondern blos das Mittel ist, um einer wahrhaft erlösenden Weltanschauung zum dichterischen Ausdrucke zu verhelfen. Und zu welchen Ergebnissen gelangt diese Weltanschauung? Das mag der Dichter mit seinen eigenen Worten sagen, wie sie bald hier, bald dort im Gange des Gedichtes sich zu knappem Bekenntnisse zusammenfassen. Eine dieser Stellen lautet:

„Was nützen strengste Glaubensnormen,
Was alle regelrechten Formen
Und aller Cultus tiefsymbolisch,
Wenn Liebe nicht echt apostolisch
Des Christenthums fruchtbarer Kern?
Nur sie bringt uns dem Himmel nah’,
Sonst bleibt uns ewig himmelfern
So Bethlehem wie Golgatha.“

Eine andere:

„Wenn nur der Einen Liebe Band
Die Herzen alle gleich umschlingt,
Wenn nur in gleichem Opferbrand
Jedweder nach Vollendung ringt,
Zu seines wie des Nächsten Frieden
Von jedem Glaubenshaß befreit,
Dann wird – trotz Glaubensunterschieden –
Im großen Dom der Menschlichkeit
Der Liebe Gottgemeinschaft sein,
Und siegreich kehrt auf Erden ein
Der Welterlösung neue Zeit.“

Ich gestehe, zur Mäkelei am Einzelnen keinen Muth zu finden angesichts der Wirkung, welche ich von dem Ganzen empfangen habe. Man nimmt ein Gedicht von Redwitz zur Hand mit dem stillen Argwohn, es werde da ein Klang und dort ein Ton an die halbvergessene „Amaranth“ erinnern, und geräth in ein tiefdurchdachtes, mit allem Wissen und Denken moderner Tage reichlich durchtränktes Kunstwerk hinein, in welchem von religiöser Befangenheit keine Spur, von mystischem Dämmerlichte keine Ahnung ist, wohl aber der helle Sonnenstrahl reinster Humanität über allen Blättern liegt. Da steife sich, wer mag, auf kleine Gebrechen in der Form, auf etliche falsche Reime, etliche übelgerathene Ausdrücke, etliche geschraubte Wendungen und künstliche Wortstellungen! Nein, dieser „Odilo“ will aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtet sein; er ist eine Confession, an der Jeder von uns sich betheiligen kann. Die Zeit, in der wir leben, ist die Kanzel, von der hier gepredigt wird, und fürwahr, es ist nicht Alles so bestellt, daß wir keiner Predigt bedürften. Wenn David Friedrich Strauß zu dem Ergebnisse gelangte, daß unser Glauben wohlberechtigter Weise ein Nichtglauben sei, so hat er wenigstens Jenen damit nicht aus der Seele gesprochen, denen zum Leben die Vorstellung eines Fortlebens über das Grab hinaus nöthig ist. Diese finden in Redwitz ihren beredten Sprecher. Auch ihm ist es in diesen wirrsam forthastenden Tagen, in denen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft mit einander in heißem Kampfe liegen, recht schwül und unheimlich zu Muthe; auch er sieht nicht ab, wohin es kommen soll, wenn die Philosophie von der Theologie verketzert, die Theologie von der Philosophie verlacht und beide zusammen von der Naturwissenschaft roh bei Seite gestoßen werden, als wäre jedes winzigste Experiment die Schwelle zu einem neuen Evangelium. Man höre, wie er über den handfesten Materialismus der Gegenwart klagt:

„Ach, unsre Zeit, durch Schwertgeklirr
Und Zungenstreit so müd’ und wir,
So abgehetzt durch Dampfeshast,
Durch Neidesgroll und Goldesgier,
Wie schwerer Nothdurft Sorgenlast –
Wohl ist dein Geist so stark wie nie.
An Wissen reich, erfinderkühn,
Voll Freiheitsdrang und Thatentriebe,
Doch ach, dein Herz wird krank, denn sieh’,
Dir fehlt’s trotz all des Geistes Müh’n
An inn’rem Frieden und an Liebe.“

Aber ihm bleibt eine Hoffnung auf Lösung doch wieder nur im Sinne des nimmer ruhenden Fortschrittes; das Jenseits des Einzelnen ist die Fortdauer in der Cultur der Zukunft, in dem, was kommende Tage von den unseren übernehmen. Das Individuum entsagt; das Ganze siegt.

„Doch all der Geist im Völkerleben,
Nach der Vollendung all sein Streben
In Sitte, Wissen und in Kunst,
Der ganze Weltschatz der Cultur,
Das Werk solch ries’gen Menschensfleißes,
So werth allew’gen Seins und Preises –
Das Alles fiel’ ohn’ alle Spur
Anheim einst ewiger Vernichtung? –
Wie einst die Lösung sei? Wer weiß es,
Will er nicht blos mit Worten spielen
In noch so hoch erhab’ner Dichtung?
Doch einer höh’ren Welt Erscheinung
Mit immer höh’ren ew’gen Zielen –
Der Völker Trost seit allen Zeiten –
Wer in beweisender Verneinung,
Wer übernimmt’s, sie wegzustreiten?“

Eine Frage freilich liegt mir schwer auf dem Herzen. Es hat Redwitz gefallen, die Verirrungen unserer Zeit an den Krankheitsgeschichten der Insassen eines Irrenhauses zu symbolisiren. Dagegen mag an sich nichts einzuwenden sein, zumal diese Krankheitsgeschichten meisterhaft vorgetragen werden. Hier ein Beispiel. Ein Kranker hält sich für die „Urlichtsphantasie“ und baut ein Kartenhaus als Tempel für dieselbe; dann ruft er:

„So schauet her, ihr Zeitgeistkinder
Und doch des eignen Geists Regirer,
Sterngucker ihr und Hirnsecirer,
Steinklopfer und Karnickelschinder,
Ihr Knochen- und ihr Pilzefinder
Und pantschende Retortenschmierer!
Die nie ihr andern Geist erweckt,
Als den ihr seht und riecht und schmeckt,
Und ganz noch in der Urschleimwindel
Mit eurer Affenweisheit steckt!
Schau her, du Stoff- und Kraftgesindel,
Du Wechselbalg der Wissenschaft:
Durch diese vierfach mag’sche Spindel
Beweg’ ich alle Kosmoskraft!“

Aber wenn schon unter all dem Wahne die Welt sich schier wie ein Narrenhaus ausnimmt, muß dann auch denen noch, welche Herz und Geist dem Idealen offen gehalten haben, die Entsagung so bitter gemacht werden, daß sie von der Liebe in dem Augenblicke wegsterben, in dem sie dem Lohne ihres Ringens nahegekommen zu sein scheinen? Warum darf Odilo nicht weiterleben an der Seite eines geliebten Weibes? Ist die Selbstlosigkeit idealen Strebens so dornenvoll, daß sie sich noch am Tode zu erproben hat? Mich dünkt, hier könne man von Redwitz sagen: summum jus summa injuria. Die Liebe ist der Menschheit Höchstes - gewiß, und auch daß sie in der Kraft der Entsagung sich am leuchtendsten bewährt, ist unbestreitbar. Aber die Entsagung darf nicht Selbstzweck werden, wie bei Odilo, sonst geräth auch

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