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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Kuß gehörte, und unser Liesel sieht aus – daß Gott erbarm, wenn das eine glückliche Braut sein soll!“

Nach ungefähr einer halben Stunde schritt ein junges Brautpaar über die Schwelle des alten Hauses; am Fenster stand die Muhme und schaute ihnen nach, und unter der Linde wandte sich ein blasses Gesichtchen noch einmal zurück zu den Fenstern; es lag nichts von einem strahlenden süßen Glück darin, nichts von der verschämten knospenhaften Wonne einer jungen kindlichen Braut; um den Mund spielte ein schmerzlicher herber Zug, und die Augen blickten unter den langen Wimpern hervor wie im tiefsten Weh. Der Bräutigam hatte ihren Arm genommen und in den seinen gelegt; so schritten sie vorwärts, und der Schleier des Pelzmützchens, das die Braut trug, wirbelte im Winde hoch auf. Keines von Beiden sprach ein Wort. Da waren sie wieder an der alten Linde; die Hand des jungen Mädchens zuckte leise, und eine dunkle Röthe flog einen Moment über ihr Gesicht.

„Du bist müde, Lieschen? Ich ging zu rasch.“

„O nein, aber ich – ich fürchte mich so vor Deiner Großmutter.“

Er biß sich auf die Lippen, aber blieb stumm; war er doch selbst in keineswegs angenehmer Spannung, und er kannte seine Großmutter genug, um zu wissen, daß sie zu einer rücksichtslosen Handlung fähig sei. Wieder schritten sie vorwärts, und nun bogen sie in die Lindenallee ein; der Wind heulte durch die lange Baumreihe und schlug die Aeste prasselnd zusammen; das hohe Portal mit seinen alten Sandsteinbären schaute feucht und dunkel drein. Unwillkürlich schweiften Lieschen’s Augen über das Thor.

„Was heißt das?“ fragte sie plötzlich und deutete auf den Wappenspruch.

Nunquam retrorsum! Niemals zurück!“ erwiderte er.

„Das ist gut,“ sagte sie, tief Athem schöpfend; dann beschleunigte sie ihren Schritt.

Und nun standen sie vor dem Thurmpförtchen; einen Augenblick kam es wie Schwäche über sie. „Werde ich es ertragen, wenn sie mich beleidigt?“ fragte sie sich, und eine namenlose Angst vor der stolzen Großmutter quoll erstickend in ihrer Brust auf; es war als müsse sich der Fuß wenden, als müsse sie noch fliehen, noch – ehe es zu spät war; sie kam sich so hülflos vor, so ohne Schutz; denn er, er liebte sie ja nicht.

„Lieschen!“ jubelte da eine helle Stimme, und in Thränen ausbrechend schlang Nelly die Arme um ihren Hals. „Lieschen! Schwester Lieschen!“

Sie duldete die Küsse; es flog wie ein flüchtiger Sonnenstrahl über ihr Gesicht, und dort oben, auf der Schwelle der alten traulichen Wohnstube breiteten sich ein Paar Arme nach ihr aus und umschlossen sie fest und fester, und einige Liebesworte tönten in ihr Wort.

„Meine liebe Mutter,“ flüsterte sie und beugte sich auf die schmale Hand, „ich will Dir gewiß immer eine gehorsame Tochter sein und – und dem Army eine treue Frau.“ Das Letzte klang stockend und leise.

„Du verzeihst einen Augenblick, Lieschen; ich will Großmama unseren Besuch anmelden lassen,“ sagte Army.

Sie neigte bejahend den Kopf, und er ging, um gleich darauf schweigend zurückzukehren. Das Herz pochte ihr stürmisch; unwillkürlich faltete sie die Hände, während sie in jähem Wechsel erröthete und bleich wurde, und mit einem Male stand Alles, was die stolze alte Frau ihr angethan, wie mit Flammenschrift vor ihrer Seele, und dann tauchte ein holdes Bild vor ihren Augen auf – Großtante Lisett und ein frühes Grab auf dem Kirchhof da drüben.

„Die Frau Baronin bedauern; sie haben Kopfschmerzen heute und können Niemand annehmen,“ schreckte Sanna’s Stimme das junge Mädchen aus ihren fieberhaften Gedankengängen.

„So lasse ich bitten, mir für morgen eine Stunde zu bestimmen, wann ich mit meiner Braut einen Besuch machen darf.“ Das klang scheinbar ruhig, und doch blitzten Army’s Augen drohend zu dem alten Mädchen hinüber, deren Blick beinahe gehässig auf der jungen Braut ruhte. Diese hatte sich unwillkürlich höher aufgerichtet; Nelly ergriff ihre Hand und streichelte leise ihre Wangen.

„Mama,“ begann Army und nahm in dem Sessel neben seiner Braut Platz, „mein Schwiegervater läßt Dich um eine Unterredung bitten, und es wäre sehr liebenswürdig von Dir, wenn Du heute Abend mit Nelly zur Mühle kämst, um gemeinschaftlich unsere –“

„Gewiß, Army, gewiß! Ich wäre so wie so heute noch mit Nelly gekommen, vorausgesetzt, daß das Wetter es erlaubt.“

„Die Frau Baronin können durchaus keine Zeit bestimmen, lassen aber den Herrn Lieutenant heute Abend auf einen Augenblick zu sich bitten,“ lautete der Bescheid, den die zurückkehrende alte Dienerin jetzt überbrachte.

„Es thut mir leid, Sanna, ich bin heute Abend begreiflicher Weise nicht disponibel, da wir unten in der Mühle unsere Verlobung feiern – hörst Du, Sanna, in der Mühle unten! Es thäte mir ferner leid, Sanna, daß die Frau Baronin Kopfschmerzen hat und wir somit ihrer Gegenwart bei der Feier entbehren müssen; im Uebrigen lassen wir – das Brautpaar – uns empfehlen und gute Besserung wünschen.“

Si, Signor!“ zischte die Alte und verschwand.

Es blieb still; Army schritt im Zimmer auf und ab; seine Mutter hatte das junge Mädchen neben sich auf’s Sopha gezogen und hielt ihre Hände fest in den ihren. Ach großer Gott! Es war doch furchtbar schwer – das Bewußtsein ihrer drückenden Stellung überkam sie plötzlich mit der ganzen Wucht; sie meinte erliegen zu müssen, wenn der Vater erführe, daß die Großmutter ihres Bräutigams sie nicht einmal hatte sehen wollen, und nun gar die Muhme! Doch sie hatte es nicht besser gewollt; sie würde nie klagen, hatte sie versprochen. Ja, wenn er sie wenigstens lieb hätte, dann – –

„Ich muß nach Hause,“ sagte sie aufstehend; es war ihr zum Ersticken schwül zu Muthe.

„Warum so eilig?“ fragte Army.

„Ich – ich möchte zu Hause Bescheid sagen, daß Mama und Nelly kommen,“ stammelte sie. Er nahm seine Mütze.

„Bleib’ doch noch hier!“ bat sie ängstlich, „ich kann ganz gut allein gehen; komm doch nachher mit Deiner Mutter!“

Er zuckte ungeduldig die Schultern. „Adieu Mama, auf Wiedersehen, adieu Nelly!“ rief er, während Lieschen, den Schleier vornehmend, mit abgewendetem Gesicht ihnen die Hand reichte.

Draußen toste noch immer das Wetter, und wieder gingen sie schweigend neben einander.

„Du bist zu leicht angezogen,“ sagte Army und nahm den Mantel ab, um ihn ihr über die Schultern zu hängen.

„Nein, mich friert gar nicht – ich danke wirklich.“ Er hing den Mantel über den Arm und schritt neben ihr weiter.

„Der Weg ist beinahe grundlos,“ begann er nach einer Weile, „wir müssen übrigens gleich an die Stelle kommen, wo der Mühlbach etwas übergetreten ist – warte! Da sind wir schon; ich möchte sehen, ob nicht ein Pfad dort drüben durch das Gebüsch führt.“

Sie sah in der graue Dämmerung seine schlanke Gestalt, die suchend jenseits des Weges ging; dann kam er zurück.

„Es geht nicht; das Wasser steht zu beiden Seiten beinahe schuhtief; ich trage Dich hinüber.“

„Nein,“ rief sie zurücktretend, „nimmermehr!“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht will, daß Du Dich um meinetwillen im Geringsten bemühst; mir schaden nasse Füße nichts, gewiß nicht; wir sind ja gleich zu Hause.“

Er antwortete nicht, und die Dunkelheit verbarg seine aufflammende Röthe, sie fühlte sich aber gleich darauf von starken Armen emporgehoben und hinübergetragen.

„Du mußt mir das schon zu Gute halten,“ klang es kühl und bitter in ihr Ohr, als sie wieder auf festem Boden stand. „Eine Dame kann unmöglich diese Stelle ohne Hülfe passiren.“

Der Rest des Weges wurde schweigend zurückgelegt. Als sie in den Hausflur traten, lugten die neugierigen Gesichter der Mädchen aus der Küche, und die Muhme kam ihnen entgegen. „Ist das ein Wetter!“ meinte sie freundlich und öffnete ihnen die Thür zur Wohnstube.

„Guten Abend, Muhme,“ sagte Army und faßte nach ihrer Hand, aber die alte Frau zog sie merkwürdig eilig zurück.

„Gehen Sie immer hinein, Herr Baron!“ bedeutete sie kühl. „Lieschen kommt schon nach; ich hab’ ihr erst noch etwas zu sagen, und Sie werden ja noch so mancherlei mit Ihrem Herrn Schwiegervater zu besprechen haben.“ Sie zog das junge Mädchen an der Hand fort in ihr Stübchen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 840. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_840.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)