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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

komische Lieblingsgestalt einer Nation von Dichtern mußte selbst ein Dichter, ein Dichter von großartiger Begabung und nach ihrem Geschmacke sein; ein Volk von Nomaden verschmolz sein Dichterideal mit demjenigen eines buntbewegten Wanderlebens. So ward Abu Seid, der als Charakter unmöglich nur als Erfindung eines Kunstdichters gelten kann, der aber in der Gestalt, die ihm die Schöpferkraft Hariri’s gegen Ende des elften Jahrhunderts nach Christo gegeben, eine unveränderliche Plastik erhalten, ein dichtender Vagabond, ein vagabondirender Dichter, wie seines Gleichen die Weltliteratur nicht kennt.

Das Vagabonden-Element, die unbezähmbare Wanderlust, der Drang nach Abenteuern in ihm macht diesen Araber nun unserm Till Eulenspiegel in erster Linie verwandt. Auch Till ist das Product einer Cultur, in welcher das fahrende Volk, vom Ritter bis zum Landsknecht, vom Scholasten bis zum musicirenden Gaukler, vom Gelehrten bis zum quacksalbernden, goldmachenden Adepten, eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielte, der Repräsentant einer Nation, in welcher die Wanderlust, die einst ihre Väter an der großen Völkerbewegung maßgebenden Antheil nehmen ließ, alle Zeit lebendig und mächtig geblieben ist und in den späteren Romfahrten, den Kreuzzügen erneuten historischen Ausdruck gefunden hat.

Die geistige Ueberlegenheit gegenüber denen, die sie prellen und anführen, ist ferner beiden gemeinsam, beiden die witzige Wendung, in der es geschieht, und welche unsere Sympathie, so oft diejenige der Beschädigten selbst auf ihre Seite zieht. „Ein bischen Diebsgelüst, ein bischen Rammelei“ sind wesentliche Ingredenzien ihrer Abenteuer. Beide setzen stets ihre Persönlichkeit ein, auch wenn es sich um Handlungen von offenem Lug und Trug handelt; ihr Muth ist nicht ihr geringster Bundesgenosse. Und nicht nur die Verlegenheit und Noth, sondern natürlicher Drang treibt beide zu allerlei Verkleidungen; wie des Arabers Abenteuer mit Recht von Rückert „Verwandlungen“ genannt worden sind, so stellen sich auch diejenigen des deutschen Tollkopfes als solche Verwandlungen dar. Nichts ist ihnen dabei heilig; das Gewand des Priesters deuten beide für ihre Zwecke aus. Und wenn dieses im Besondern dem beredten Scheich besser zu Gesicht steht – hat er doch die volle Beredsamkeit eines Abraham a Santa Clara zur Verfügung – so muß dem niederdeutschen Bauernsohn nachgerühmt werden, daß er sich auf dem Gebiet der Verkleidung weit erfinderischer zeigt, als sein ihm an Phantasie und Gedankenfeinheit doch so weit überlegener Widerpart. Des Serungers Verwandlungen heben diesen nur selten aus der Sphäre seines Bettlerthums heraus; welche Fülle von Rollen weiß dagegen der Kneitlinger sich zu eigen zu machen!

Beide verwerthen weiterhin ihre Talente zur Ermöglichung eines thunlichst arbeitslosen und genußvollen Lebens, ohne in der Wahl ihrer Mittel durch Ehrbegriffe sonderlich gehindert zu werden, aber des Arabers Schwindeleien sind durch die Grazie der Ausführung weit mehr dem Dunstkreise des Gemeinen entrückt, als die des Deutschen. Der letztere wird uns in seinem Denken und Handeln oft sogar widerwärtig; gewisse Unfläthereien, die Lust am „Hofixen“ und anderen schmutzigen und windigen Dingen, denen K. J. Weber in seinem „Demokritos“ das „Capitel Pfui“ gewidmet hat, erscheinen uns Modernen kaum noch komisch und lächerlich, wie unseren roheren Altvordern. Vor dieser Ueberschreitung in das Gebiet des Niedern und Gemeinen schützte den Seruger seine bessere Vergangenheit, und neben dem edleren Sinn seiner Nation der Adel seines Dichtergeistes. Eulenspiegel ist ein junger Bursche, der Sohn einer armen energielosen Bäuerin; er ist zu faul ein Handwerk zu lernen, und als er sechszehn Jahr alt ist, „tummelt er sich und lernt mancherlei Gaukelei“. Er sucht in der Fremde sein Glück; mit Zehrgeld versorgt ihn sein Mutterwitz, und dieser ist, um seinen Zweck nicht zu verfehlen, naturgemäß auf den Geschmack der Lebenskreise angewiesen, in denen Till am meisten Verkehr hat: des niedern Bürgerstandes und der Bauern. Wohl veranlaßt der wachsende Ruf seiner Schwänke und Anschläge auch Fürsten und Große, den gewandten Schalksnarren zu sich zu rufen, doch wahrlich nicht um ihn bessere Sitten und Lebensanschauungen zu lehren. Wie traurig es übrigens auch um diese stand, ist aus des Ritter’s Hans von Schweinichen Denkwürdigkeiten und den Simplicianischen Schriften männiglich bekannt. Der Bettlerkönig aus Serug hingegen darf sich edelster Abstammung rühmen; seine Jugend war in Wohlleben verstrichen. Unglück allein hat ihn seines Besitzthums beraubt und zum Landstreicher gemacht. Er bettelt, aber im Vollbesitze der höchsten Bildung eines hochgebildeten Volks. Und vertiefter, wie uns sein Charakter gezeichnet ist, hat dieser neben der komischen eine tragische Seite. Die elegische Sehnsucht nach dem verschwundenen Paradies seiner Heimath und Jugend sendet oft genug einen wehmüthigen Accord in den jauchzenden Schwall seiner heiteren Beredsamkeit.

Rührend schildert er selbst diese Doppelnatur seines Wesens in folgenden Versen:

Ich bin der alte Wunderreich,
Der Ueberall und Nirgendwo.
Der Araber und Perser ruft
Ob meinen Streichen ha und ho!
Ich aber ruf’ an jedem Tag
Ob meinem Jammer ah und oh!
Denn ach, die Hand des Schicksals liegt
Auf meinem Nacken rauh und roh.

Der Unterschied adeligen und gemeinen Wesens zwischen beiden Schelmen tritt besonders hervor in der Art, wie sie sich dem Lebensgenuß hingeben. Wenn Eulenspiegel einen Streich glücklich aufgeführt hat und zu Gelde gekommen ist, dann heißt es einfach: „Und er war hinweg und schlemmte redlich.“ Auch Abu Seid enteilt dem Schauplatze seiner Thaten und setzt sich fest in der Schenke in Nichtachtung der Vorschriften des Propheten. Aber was für ein Zecher ist er! Auch hier ist er Künstler! „Bald den Schenken herzte er; bald mit der Flasche scherzte er, roch nun den Duft der Viole, sog nun das Naß der Phiole und horchte dem Lied der Viole, von der Lust Gesellen umrungen, von den Gasellen umsprungen und von den Ghaselen umklungen.“ Die schönste aber entperlt seinem eigenen freudetrunkenen Munde – Anakreon wird zum Schulbuben neben ihm:

Nicht schelt’ einen Alten,
Der glätten will Falten
Und füllen die Spalten
Und stützen sein Dach!
Denn Wein ist der Glättstein
Des Trübsinns, der Wetzstein
Des Stumpfsinns, der Brettstein
Des Sieges im Schach.
Ja, Wein ist der Meister
Der Menschen und Geister,
Der Feige macht dreister
Und stärket, was schwach …
Sprich, weißt Du, was besser
Als Schenkengewässer
Und brausende Fässer
Und Taumelgelag? …

Ist Eulenspiegel’s Witz rasch zur That und kurz von Wort, so ist dagegen der unseres Dichters wort- und klangreich, eher dem seines türkischen Vetters verwandt. Die Sprache ist sein Instrument, auf welchem er spielt, so verführerisch, so bestrickend, daß die Herzen der Hörer weich werden und, berauscht von dieser Musik, dem Spieler ihre Freigebigleit unbegrenzt zuwenden. „Er bezauberte mit seinem Mundwerk das Volk, indeß er mit beiden Händen molk“, und so haben seine Worte, mögen sie in lyrischer Begeisterung ertönen, in epischer Breite ihre Farbenpracht entfalten, in gnomenhafter Kürze, Raketen gleich, hervorblitzen, das Wesen und die Wirkung von Thaten.

Bald rüttl’ ich Schläfer wach, und bald
Umnebl’ ich die Besinnung Wacher;
Bald für die Weiner predigend,
Bald Lieder singend für die Lacher,
Im Weiberrock und Manneskleid,
Jetzt Chansa (eine Dichterin), dann ihr Bruder Sacher (ein Held).

Fast jede mit dem Sinn für das Komische begabte Nation hat ihren Schalksheiligen, dessen Charakter, durch eine literarische That in feste Form gebracht, in der Phantasie und im Munde des Volks als der gute Genius humoristischer Lebensauffassung fortlebt. Meine drei Freunde, die ich im Vorstehenden, durch neuere Literaturerscheinungen veranlaßt, neben einander gestellt und verglichen habe, würden in euer Gesammtdarstellung dieses wichtigen und anziehenden Capitels der Literatur- und Culturgeschichte eine hervorragende Stellung einnehmen. Alle Drei sind Urtypen, geboren aus dem Geiste ihrer Nationalität und ihrer Zeit, und deshalb beleuchtet sie diese selbst nach gewissen Richtungen hin auf das Hellste.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 831. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_831.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)