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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Drinnen im Zimmer hatte wieder das ruhelose Wandern des Müllers begonnen, und wieder scholl der Mutter Schluchzen, des Sohnes Trösten dazwischen, aber wo war Baron Fritz? Noch immer am Todtenbett? Drüben im Dorfe schlug es zehn Uhr; da hörte ich einen Schritt die Treppe herabkommen, so langsam und schleppend, als gehe ein alter Mann. Ich schaute in den Hausflur – da stand er am Treppengeländer; leichenblaß sah er aus; kaum wieder zu erkennen war das hübsche, lebenslustige Gesicht. Er sah noch einmal hinauf und schritt dann langsam auf die Wohnstubenthür zu; als er dicht davor stand, schauderte er zusammen, wandte sich rasch um und ging an mir vorüber, ohne mich zu sehen, in die finstere Nacht hinaus, wie ein armer gebrochener Mensch. Es war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen, er soll dann ein wildes, tolles Leben geführt haben – wie mochte sein Herz im lauten Jammer schreien! In Derenberg ist er nie wieder gewesen, und jetzt wird er lange todt sein. Möge Gott ihm eine sanfte Ruhe schenken!

Die tolle Fränzel aber war auch verschwunden; Niemand wußte, wohin. Und auf dem Schlosse und im Dorfe sagten sie Alle, der junge Baron sei mit ihr auf und davon, und da hab’ ich auch noch einmal gezweifelt an seiner Treue. Aber dann, als die Lisett begraben war, da ging ich gegen Abend mit meinem Christian auf den Kirchhof zu dem frischen Grabe, und wie ich dort stehe und weine und die Kränze all zurecht lege, die ihr die Leute geschickt hatten, da sagte Christian: ‚Guck, Mariechen, dort liegt was Weißes wie ein Zettel,‘ und richtig, es war auch ein Steinchen darauf gelegt, damit es nicht wegfliegen sollt’, und wie ich ihn aus einander falte, da steht darauf in großen ungelenken Buchstaben: ‚Es ist nicht wahr, was sie sagen; er hat mich niemals angeschaut; ich weiß nicht, wo er ist, und er nicht, wo ich bin. Mich sieht nimmer Einer wieder von Euch – denkt nicht zu schlecht von mir! Das goldene Herz hab’ ich umgehängt, weil es meine Herrin befohlen; sie sagte, es gelte nur einen Spaß mit der Lisett. Die Sanna war dabei – Ihr könnt sie fragen. Gott soll mir vergeben; ich hab’ nicht wollen so Böses thun.

Franziska.‘

So hat sie es damals gemacht, sie da droben, um des Lumpenmüllers Lisett nicht in ihre stolze Familie zu bekommen und – Kind“ – die alte Frau streichelte weich das Haar des tief erschütterten Mädchens zu ihren Füßen – „Du, unser Einziges, thu’ Dir und uns das nicht an, daß Du ihr wieder zu einer Gelegenheit verhilfst, solch ein Teufelsstück auszuüben! Sie wird es ausüben – verlaß Dich darauf! – sie haßt uns hier in der Mühle, weil sie von der Lisett her ein böses Gewissen hat. Sieh’, mein armes Herzel, wenn’s mir auch bitter weh um Dich ist, ich kann Dir nur eines sagen: begrabe, was Du heute erlebt hast!“

„Ich vermag es nicht, Muhme,“ unterbrach sie das junge Mädchen thränenmüde, aber mit unverkennbarer Bestimmtheit; und plötzlich erhob sie sich und stand in fester Haltung vor der alten Frau. „Die Geschichte von der Tante Lisett ist sehr traurig. Aber ich habe Army das Versprechen gegeben, daß ich ihn retten will, und das muß ich halten. Und wenn ich ihm die Geschichte der Tante Lisett erzählt haben werde, dann wird er gewarnt sein. Sei barmherzig, Muhme, und rede mir nicht ab!“ fügte sie nach kurzer Pause in ausbrechender Leidenschaft hinzu, indem sie auf’s Neue zu den Knieen der sprachlos Dasitzenden niedersank, „wir haben uns ja so lieb, so lieb – hilf uns, daß wir glücklich werden! Sag’ es dem Vater drunten und der Mutter und rede ihnen zu – nicht wahr, Du thust es, liebe, süße Muhme, nicht wahr?“ Und die feuchten Augen des gequälten Mädchens blickten flehend zu der Muhme hinauf, und diese fühlte, wie zwei weiche Hände die ihren faßten und sie ängstlich festhielten.

„Mein Gott“ – klang es im Herzen der alten Frau, „es hat nichts geholfen; es ist die Lieb’ wie sie immer war, die niemals klug wird, außer durch eigenen Schaden. Und er hat sie doch nicht lieb; es ist nicht wahr, wenn ich nur das Herz hätte, ihr das zu sagen! – und der Friedrich wird’s nie zugeben –“

„Willst Du mit den Eltern sprechen, Muhme?“ flüsterte es so wehmütig und schmeichelnd zugleich zu ihr herauf.

„Ja, mein Herzchen! Ich seh’s schon, es hilft nichts – aber schlaf’ nur ruhig heut! Morgen, morgen –“

„Nein, heut, gleich jetzt! Morgen kommt er ja,“ flehte sie, „Vater muß sich in der Nacht doch überlegen, was er ihm sagen will – bitte, bitte, Muhme!“

„Hast Recht, mein Kind, es ist besser gleich,“ bestätigte die alte Frau, und die Stimme klang so eigenthümlich gepreßt, „laß mich aufstehen! Ich will hinunter, Du aber schlaf’ süß! Morgen früh erfährst Du zeitig genug, was sie sagen, mein Liebling.“

„Wie könnt’ ich schlafen, Muhme!“ rief sie aufspringend und legte die kleine zitternde Hand auf die Schulter der alten Frau.

Die alte Frau antwortete nicht; sie öffnete hastig die Thür und ging hinaus. Lieschen folgte ihr in den dämmerigen Vorsaal und bog sich über das Treppengeländer; da schritt sie die breite gewundene Stiege hinunter, aber wie langsam ging es! Die alten Füße konnten doch sonst noch so flink trippeln; heute wollten sie gar nicht vom Fleck; langsam – langsam, Stufe um Stufe ging es; die Treppe ächzte ordentlich unter den schweren Tritten der Alten, und ihre Hände faßten so fest das geschweifte Geländer – nun verschwand die Gestalt den Blicken Lieschens; die schleppenden Tritte über den steingepflasterten Flur tönten in ihr Ohr, und jetzt – jetzt – das war die Thür der Wohnstube; jetzt stand sie vor Vater und Mutter.

„Ob man das Sprechen hier oben hören kann? Was werden sie sagen?“

Athemlos stand sie so über das Geländer gebeugt; kein Laut drang zu ihr hinauf – nur ein paar Mal hörte sie Dörtens Stimme leise vor sich hin singen und Klappern von Tellern und Geschirr aus der Küche – dann war’s ruhig wie zuvor.

„Aber jetzt – das war der Vater; ob er böse ist? Er sprach so laut, und nun die Muhme.“ Lieschens Herz fing an gewaltig zu klopfen; sie preßte beide Hände darauf. „Wie, wenn der Vater nicht einverstanden wär’? Aber das ist ja unmöglich, rein unmöglich; der Army ist’s ja, der sie liebt.“ Das war ein Durcheinandersprechen dort unten – jetzt der Muhme Stimme; das klang so besänftigend, und jetzt wieder der Vater – deutlich schallte es heraus; wie betäubend drang es in ihr Ohr:

„Nein, nein und tausendmal nein, sage ich, und wenn Ihr allesammt vor mir auf den Knieen liegt, ich weiß allein, was ich zu thun habe.“

Einen Augenblick sahen die großen blauen Augen wie verständnißlos in’s Leere hinaus; dann flog sie die Treppe hinunter, und im nächsten Momente stand sie mitten in der Wohnstube; über ihr Gesicht flog bald eine glühende Röthe, bald überzog es tiefe Blässe. „Vater!“ bat sie.

Er blieb stehen und sah sie an; auf seiner breiten weißen Stirn ringelte sich blau eine kleine Ader; sie kannte es wohl, das Zeichen der höchsten Erregung bei ihm, und seine Augen leuchteten förmlich Blitze zu ihr hinüber. Die Muhme aber hatte ein so tief bekümmertes Gesicht, als sie jetzt zu dem jungen Mädchen trat: „Komm, Liesel, geh’ hinauf!“

„Nein, Muhme, laß mich! Ich will wissen, was der Vater sagt.“

„Was der Vater sagt?“ tönte jetzt seine Stimme in ihr Ohr; „der sagt, daß Du ein törichtes, dummes Ding bist, dem zu viel Willen und zu viel Freiheit gelassen wurde, aber das Versäumte wird jetzt nachgeholt werden – verlaß Dich darauf!“

„Das heißt, ich soll nicht Army’s Braut werden, Vater?“ Sie stand plötzlich dicht vor ihm und sah ihn fest an.

„Nein, mein Kind, zu Deinem Besten nicht. Ich dulde nicht, daß meine Tochter das Opfer einer Speculation werde.“

„Speculation?“ fragte Lieschen, die blaß geworden war wie der Tod, „ich weiß nicht, was Du damit meinst, Vater! Du glaubst vielleicht, Army hat mich nicht lieb; das ist ja möglich, aber wenn er mich auch wirklich nicht so lieb hat, wie ich ihn, das darf für mich nicht in Betracht kommen; ich weiß, daß das Leben erst wieder Werth für ihn bekommen wird, wenn er –“

„Seine Schulden bezahlt hat, mein Kind.“

„Muhme!“ wandte sich Lieschen jetzt in höchster Erregung zu der alten Frau, „Muhme, glaubst Du das von dem Army? O, sprich ein Wort!“ Sie sagte es so überzeugend; der alten Frau schossen die hellen Thränen in die Augen.

„Komm, komm, mein Liesel!“ flüsterte sie; „der Vater ist böse und aufgeregt; morgen wird er ruhiger sein.“

„Nein, nein, Muhme, Du mußt es dem Vater sagen, was Du denkst; er giebt so viel auf Deine Meinung.“

Die alte Frau stand in peinvollster Verlegenheit; die Thränen

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