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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Giebel waren angefüllt mit kunstvollen Gruppen und Gestalten aus diesem Steine. Im vorderen hatten die Künstler die Sage von der Entstehung der olympischen Kampfspiele dargestellt, die bekannte Sage vom Helden Pelops. In Berlin sehen wir jetzt das Giebelfeld, aus Holzgerähme erbaut, und die Gipsabgüsse der sehr schadhaften Marmorgestalten darin eingefügt. In der Mitte steht Zeus als höchster Kampfrichter da. Zur einen Seite sehen wir den alten Gaukönig mit seiner Gattin, zur anderen den jugendlichen Sieger Pelops mit der errungenen Braut. Neben jedem der beiden Streiter hält das Viergespann der feurigen Rosse, zum Beginne des Kampfes bereit, Wagenlenker, helfende Knaben, knieend, kauernd, sitzend, umgeben als schöne Nebengestalten die Hauptgruppen, füllen den Raum, den in jedem der spitzen Winkel ein liegender Flußgott abschließt, eine Versinnlichung der natürlichen Grenzen der heiligen Flur.

Eine andere altgriechische Sage wird in dem westlichen, hinteren Giebelfelde durch Marmorgruppen dargestellt. Sie erzählt, daß nach langen Grenzkämpfen zwischen dem wilden, thierischen Bergvolk der Centauren deren Körper in einen Pferdeleib endete, und den gesitteten Lapithen, Peirthoos, der Fürst dieser letzteren, jene Halbmenschen zur Hochzeit eingeladen habe. Kaum kosteten diese den süßen Wein, da erwachte die wilde Gier der thierischen Gesellen; sie berauschten sich, ergriffen die Weiber und Knaben ihrer Gastfreunde und versuchten sie wegzuschleppen; es kam zum Kampfe. Dieser wüthende Kampf und Weiberraub ist in dem Giebelfelde dargestellt, welches man in Berlin ebenfalls aus den Gypsabgüssen der Funde von Olympia zusammengestellt hat. In der Mitte steht die jugendschöne Gestalt des Gottes Apollo, des Beschützers edler Gesittung. Er streckt seinen Arm helfend über die verzweifelten Lapithen aus. Zu beiden Seiten umtobt ihn wüthender Kampf. Einer der berauschten Thiermenschen hat das geraubte Weib mit dem Vorderfuß des Pferdeleibes umfaßt. Sie wehrt sich heftig, greift ihm in’s Haar, in den Bart, indeß einer der lapithischen Helden herbeieilt, die Widerstrebende der Gewalt zu entreißen. Zur andern Seite des Gottes sehen wir die Braut des Peirithoos, um die eines der Ungeheuer mit dem Pferdeleibe den einen Arm geschlungen hat, während die Hand des andern ihr in wilder Gier an die Brust greift. Mit der einen Hand wehrt sie krampfhaft die widrige Umarmung ab, mit der andern sucht sie ihre Brust freizumachen und stößt dabei mit dem Ellenbogen das trunkene Haupt des Centauren zurück. Auch ihr eilt ein Kämpfer zu Hülfe, von dem allerdings bisher nur ein kleines Bruchstück aufgefunden worden ist. Weiter sehen wir einen lapithischen Jüngling, der mit kräftigem Arme einen Centauren umschlingt. Beide sind im Kampfe niedergestürzt; der Thiermensch beißt den Helden in den Arm. Auf der andern Seite entspricht dieser prächtigen Gruppe ein Centaur, der einen schönen Knaben ergreift, um ihn wegzuschleppen, während dieser sich aus der Umarmung zu entwinden sucht. Wilder Kampf wogt in dem ganzen Giebelfelde. Wir erblicken noch ein fliehendes Weib, die einer der Centauren ergreifen und auf den Rücken seines Pferdeleibes werfen will; ein Jüngling eilt hinzu und stößt dem Ungethüm das Schwert in die Brust. Hier zum ersten Male haben wir zwei jener großartigen Gruppirungen, mit denen die Alten ihre Tempelgiebel schmückten, in annähernder Vollständigkeit vor uns, denn keine Gestalt fehlt gänzlich, von jeder sind wenigstens Stücke vorhanden. Weitere ergänzende Funde lassen sich bei Fortsetzung der Arbeit erwarten. Kleinere Gruppen in halb erhabener Arbeit, die Thaten des Herakles (Hercules) darstellend, die rings den Oberbau des Tempels geschmückt haben, finden wir ebenfalls neben einander in Berlin ausgestellt.

Von den Weihgeschenken und den Bildsäulen, welche in den andern heiligen Orten aufgestellt gewesen, ist nicht viel erhalten geblieben. Zwei derartige Kunstwerke lohnen indessen reichlich die aufgewendeten Mühen und Kosten. Sie stammen von den größten Meistern des alten Griechenland her, sind die einzigen Werke, die wir von diesen besitzen, und gehören überhaupt zu dem Vollendetsten, was von griechischer Bildhauerei auf die Nachwelt gekommen ist. Das eine stellt eine geflügelte Siegesgöttin vor. Die herrliche Gestalt schwebt aus der Luft hernieder; ihr faltiges Gewand flattert weit vom Körper weg; sie setzt eben den Fuß auf einen Felsen und trägt in der Hand den olympischen Preis, mit dem sie einen Sieger krönen will. Die andere Bildsäule ist ein schöner nackter Götterjüngling, der Hermes, den die Götter der Sage nach zum Boten gebrauchten. Er lehnt sich an einen Baumstamm und hält in dem Arme ein reizendes Knäbchen, in dem man den jugendlichen Gott Dionysos oder Bacchus erkennen will. Groß ist noch die Anzahl der einzelnen Köpfe, der Gliedmaßen, der Erztafeln, Inschriften und kleinen Opfergaben, die man aus dem Schutte hervorgezogen hat. Es sind bis jetzt außer den Tempeln, Altären und sonstigen Gebäuden 904 Marmorstücke, 3734 Sachen aus Erz, Geräthe, Tafeln, Opfergaben, kleine Weihgeschenke, dann Gebilde aus gebranntem Thon, 429 Inschriften und 1270 Münzen aus dem Boden der heiligen Flur an’s Tageslicht gefördert worden.

Das deutsche Volk ist kein reiches. Dennoch hat es nicht einen Augenblick gezögert, als es galt, bedeutende Geldopfer, große Anstrengungen für die gesammte Wissenschaft, die Alterthumsforschung, die Kunstgeschichte darzubringen unter völligem Verzicht auf jeden eigenen Vortheil; damit aber gebührt ihm mindestens der Anspruch, Rechenschaft darüber zu erhalten, ob Mittel und Kräfte zweckmäßig und fruchtbringend aufgewendet worden sind, ob der Gewinn für die Wissenschaft ein den Aufwendungen entsprechender gewesen. Und darauf giebt schon die jetzt in Berlin eröffnete Ausstellung der Olympia-Funde eine genügende Antwort. Was aber außer den jetzt ausgestellten Kunstwerken noch gewonnen und durch Veröffentlichungen der ganzen Welt zugänglich gemacht worden ist, das übertrifft nach dem allgemeinen Urtheil aller Sachverständigen selbst die größten Erwartungen, die man vor Beginn der Arbeiten zu hegen berechtigt war. Gewiß würden wir mit den Kunstwerken, welche deutsche Kraft dem Schooß der Erde entrissen, gern ein Reichsmuseum gefüllt haben; wir mußten darauf verzichten. Freuen wir uns, daß Deutschland sich durch jenen nothwendigen Verzicht nicht hat abhalten lassen, ein mit so glänzendem Erfolge gekröntes Werk auszuführen, welches ohne unser uneigennütziges Eintreten bis in weite Ferne hinaus unterblieben wäre.

Fritz Wernick.[1]





Pariser Straßentypen.[2]
Von Ernst Eckstein.

Paris ist unter allen Städten des Erdbodens die revolutionärste und gleichzeitig die conservativste – revolutionär im politischen, conservativ im gesellschaftlichen Sinne. Seit dem letzten Decennium des achtzehnen Jahrhunderts haben in Paris die Staatsformen in kaleidoskopischer Buntheit gewechselt. Heute Königthum und Willkürherrschaft der privilegirten Stände; morgen die gemäßigte Republik; übermorgen der rothe Schrecken und zum Schluß der Cäsarismus, der die bedrohte Gesellschaft rettet, - das hat sich mit verschiedenen Variationen und Episoden nun schon zwei Mal vor den Augen Europas abgespielt, um allerjüngstens die bisher noch nicht dagewesene wunderliche Mischgattung eines clerikalen Freistaates zuwege zu bringen. Aber merkwürdig: so rasch die politische Physiognomie unserer westlichen Nachbarn sich wandelt, so unberührt bleibt von all diesen Aenderungen der innere Organismus der Gesellschaft, ja, selbst die Maschinerie der Verwaltung und der Apparat der Regierung. Es ist, als ob nur

  1. Wir empfehlen bei dieser Gelegenheit die anziehende Schilderung eines Besuchs auf dem Ausgrabungsfelde, welche der vielgereiste Verfasser obigen Artikels unter dem Titel „Olympia“ herausgegeben. Auch seine „Städtebilder“, von denen der eben erschienene erste Band Rom, Paris und London behandelt, zeigen eine selten feine Beobachtungsgabe und viel Geschick in der plastischen Wiedergabe der Eindrücke.
    D. Red.
  2. Bei der nahen Berührung, in welche viele unserer Leser gelegentlich der jüngsten Weltausstellung mit der französischen Hauptstadt und ihren Bewohnern gekommen sind, dürfte der obige Artikel als eine Reminiscenz an die Tage der Ausstellung nicht unwillkommen sein.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_815.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)