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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

das Grund- oder Schleppnetz in eine Vertiefung am Boden der See gelangt, wo Schellfische, Schutz gegen Strömung suchend, zufällig in Masse vorhanden sind.

Ueber die Zahl der in der Nordsee gefangenen Schellfische kann ich leider keine genaueren Angaben machen, sie muß aber eine ungeheuere sein. Ist die See nur einigermaßen ruhig, so fahren die Schaluppen jeden Tag aus. Das Ergebniß des Fanges schwankt beträchtlich; oft kommen die Fahrzeuge ganz leer nach Hause; ein andermal fangen sie dreißig bis vierzig, dann aber kommen Tage, wo sie mehrere hundert, ja, wie es in früheren Jahren hier wiederholt vorgekommen, tausend bis zweitausend Stück nach Hause bringen. An der ganzen ostfriesischen Küste stellt wohl jeder Ort eine oder mehrere Schaluppen, desgleichen die Inseln; von Norderney fahren deren allein fünfzig bis sechszig aus.

Tags vor Ausfahrt der Schaluppe sieht man die Frauen zur Zeit der Ebbe auf das Watt hinausgehen, um die neben Granaten vorzugsweise als Köder benutzten „Wattwürmer“ zu suchen; sie erhalten dafür, außer einer Entschädigung an Geld, sämmtliche Fische von gewissen Arten, die sich an dem von ihnen besorgten Tau fangen. Ein mühseliger und anstrengender Weg, bei welchem sie bisweilen knietief in den zähen Wattschlamm einsacken! Sie müssen oft über eine halbe Stunde weit hinausgehen, um an einen Ort zu gelangen, wo sie auf genügende Ausbeute rechnen dürfen. Ihr Costüm ist einer solchen Excursion entsprechend; sie tragen alle Männerkleidung, dazu große Wasserstiefeln.

Einen komischeren Anblick kann man sich nicht leicht denken, als zehn bis zwölf meist ältere Frauen, in angedeuteter Weise gekleidet. Auf dem Kopfe eine riesige Dormeuse, in der einen Hand ein Körbchen, mit der anderen gravitätisch eine große Harke schulternd – so ziehen sie zum Fange aus, eine hinter der anderen, im Gänsemarsch. An einer günstigen Stelle auf dem Watt angelangt, graben sie tiefe Löcher, um die Würmer, die an Größe und Aussehen den allbekannten Regenwürmern nahe kommen, zu Tage zu fördern. Haben sie nach ein- bis anderthalbstündigem Suchen eine genügende Anzahl beisammen, so geht es nach Hause, um die Angelhaken damit zu versehen, eine unangenehme Arbeit, die indeß mit viel Sorgfalt abgethan werden muß. Damit die ganze Angel nicht in Unordnung gerathe, hat man Tafeln von Holz in der Größe etwa einer kleinen Tischplatte zur Hand; diese Tafeln sind mit erhabenem Rande versehen und durch eine Querleiste in zwei Hälften getheilt; auf der einen Hälfte wird das Tau aufgerollt, in dem Maße, wie die Haken gespickt sind, auf die andere werden die Haken gelegt, einer genau neben den anderen, und zwar, um den Köder möglichst frisch zu erhalten, auf eine Schicht feuchten Sandes.

Es war Morgens sechs Uhr, als ich, zur Fahrt gehörig ausgerüstet, an der Küste anlangte, wo unsere Schaluppe lag, ein Fahrzeug von achtundzwanzig Fuß Länge. Ich traf den Besitzer derselben, ferner seinen Bruder, seinen Sohn und noch einen andern Fischer an, Alle zur sofortigen Ausfahrt bereit. Eine frische Brise brachte uns bald aus dem Hafen in freies Fahrwasser und gab uns gute Fahrt, neun bis zehn Knoten pro Stunde. Leider hatte der Himmel kein sonderlich freundliches Gesicht aufgezogen; stark bewölkt, sandte er uns einen feinen Sprühregen, eine unangenehme Zugabe bei nüchternem Magen, doppelt unangenehm bei einer Fahrt, während welcher wir ohnedies nicht eben über Wassermangel zu klagen hatten. Nach einer guten halben Stunde erreichten wir Spiekeroog und fuhren zwischen dieser Insel und Langeroog durch das Seetief der offenen See zu, die sich bald durch das starke Stampfen unserer Schaluppe bemerkbar machte, und kurz darauf näherten wir uns den Fischgründen; es war Zeit, Alles vorzubereiten. Die Luken zum Raum wurden geöffnet, die Tafeln mit den Angeltauen – wir hatten deren fünfzehn an Bord – bereit gelegt und sonstiges Fanggeräth, wie Tonnen, große Haken etc., hervorgeholt. Nachdem Alles so weit vorgerichtet, hieß es: Beten! Alle entblößten die Köpfe und beteten lange und leise, mit den lautgesprochenen Worten schließend: „Herr, segne unsern Fang!“ Ich gestehe, es hatte diese Scene etwas überaus Ergreifendes für mich – diese großen, kräftigen, wettergebräunten Gestalten so ernst, so andächtig beten zu sehen, dazu in einer solchen Umgebung, auf schwankendem, verhältnißmäßig kleinem Boote, ringsum bis weit hinaus an den Horizont, der von man sich klärenden Himmel in leicht geschwungener Linie sich abhob, die herrliche, aber auch so heimtückische See, über uns der Himmel mit der leicht verschleierten Sonne – fürwahr, eine solche Umgebung verfehlt wohl auf kein Gemüth ihren Eindruck.

Das nunmehr häufiger ausgeworfene Loth zeigte uns bald den Ort, wo die Angel „ausgeschossen“ werden konnte; neuneinhalb bis zehn Faden ist die hierzu geeignetste Tiefe. Die Schaluppe wurde „bei dem Wind gebracht“; die Segel wurden gekürzt, sodaß wir, nur wenig Fahrt machend, in gerader Linie abtrieben. Der Fischer nahm seinen Sitz am hintern Theile des Fahrzeugs, die Angel, die ihm von den Anderen gereicht wurde, auszuwerfen. Zuerst wurde eine kleine Tonne, roth und schwarz angestrichen, mit zehn bis fünfzehn Faden Tau verbunden, in See geworfen, an das andere Ende desselben, mit Eisenstücken beschwert, das Angeltau befestigt, und dieses nun in dem Maße, als das Schiff Fahrt machte, „nachgegeben“, wobei mit großer Sorgfalt jede Verwickelung von Tau und Angeln vermieden ward. Von Zeit zu Zeit, von je zwei zu zwei Tauen, wurde eine Tonne, in gleicher Weise wie die erste, mit der Angel verknüpft und ausgeworfen. Diese Tonnen haben lediglich den Zweck, die Lage des Taues zu markiren, nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, dasselbe schwimmend zu erhalten; man beschwert im Gegentheile die Angel mit Steinen und Eisenstücken, um sie auf dem Grunde zu erhalten, da nur hier die Schellfische sich aufhalten.

Die Angel, der gewöhnliche Fangapparat, besteht zunächst aus einer starken Leine von fünf bis sechs Millimeter Durchmesser und dreiunddreißig Faden Länge (der Faden umfaßt sechs Fuß), welche aus bestem Hanf gedreht, der größeren Haltbarkeit wegen mit Lohbrühe getränkt und nach dem Trocknen mit Theer bestrichen ist. Sie trägt, in Abständen von je drei Fuß, die Angelhaken an zweieinhalb Fuß langen, drei Millimeter dicken Schnüren. Diese Schnüre, meist von den Fischern selbst an langen Winterabenden verfertigt, sind ebenfalls mit Lohbrühe getränkt, jedoch ohne Theerüberzug. Die Angelhaken, von vier bis fünf Centimeter Länge, bestehen aus bestem Schmiedeeisen, beziehentlich Draht und sind mit starken Widerhaken versehen. Stahl würde sich dazu nicht eignen; daraus gefertigte Haken würden, zumal wenn größere Fische, wie Kabeljaus beispielsweise, anbeißen, zu leicht brechen, was bei den eisernen nicht vorkommt. Häufiges Verbiegen ist aber auch bei diesen unvermeidlich. Die Haken sind mittelst Oesen und starkem Garn an den Schnüren befestigt. Sechs solcher Leinen bilden ein sogenanntes „Angeltau“; zehn bis fünfzehn solcher Taue führt jede Schaluppe.

Nachdem das letzte Tau ausgeschossen und das Ende ebenfalls mit einer Tonne verknüpft worden, warf man auch diese in See, so jede Verbindung mit Schiff und Fangapparat aufhebend. Das ausgeschossene Tau hatte eine Totallänge von einer guten Stunde und enthielt viertausend Haken.

Wir ließen nun den Fischen Zeit zum Anbeißen, ihnen guten Appetit wünschend, uns suchten mittlerweile den unsrigen durch ein tüchtiges Frühstück zu stillen; die frische Seeluft hatte denselben nicht wenig gereizt, sodaß es uns trefflich mundete. Wir segelten im Kreise einher, uns möglichst in der Nähe der letzten Tonne haltend. Tags zuvor gefangene Kabeljaus wurden noch zerlegt und zum Einsalzen vorbereitet, in welcher Form sie als Laberdan sehr gesucht sind. Dann veranstalteten wir noch eine Jagd auf Seemöven, welche, durch die als Köder ausgeworfene Kabeljauleber angelockt, aus weiter Ferne herbeikamen.

Nach dreiviertelstündigen Einhersegeln suchten wir das Ende des Angeltaus, die letzte Tonne auf; mit einem Haken an Bord geholt, wurde die Angel aufgehoben, ein Vorgang, den ich mit großer Spannung entgegensah. Das Boot fuhr inzwischen mit schräger Stellung in der durch die Tonnen angezeigten Richtung des Taues hin. Der Fischer stand am hinteren Theil des Fahrzeugs an der beim Ausschießen eingenommenen Stelle; ein anderer war ihm mit einem Netz zur Seite, um die Fische, sobald sie an der Oberfläche des Wassers waren, aufzunehmen und auf Deck zu werfen. Es dauerte lange, bevor die erste Beute sich zeigte. Endlich, nachdem schon mehrere Faden Tau aufgenommen waren, erschien ein Fisch, in einer Tiefe von fünfzehn bis zwanzig Fuß schon sichtbar. Es sah prächtig aus, wie das Thier zu uns heraufblinkte in der krystallklaren blaugrünen Fluth und, die verzweifelten Anstrengungen zur Befreiung machend, bald hier- bald dorthin schoß - vergebliche Mühe, rasch war er heraufgeholt und mit dem Netz auf Deck geworfen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 810. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_810.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)