Seite:Die Gartenlaube (1878) 785.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Längst hatte es Mitternacht geschlagen, und noch immer saß Nelly am Bett der fiebernden Mutter. Sie war die Einzige, die den Kopf oben behalten bei der grausamen Veränderung der Dinge. Sie hatte die erschöpfte, besinnungslose Mutter zur Ruhe gelegt und soviel wie möglich die Spuren der Vorkehrungen vernichtet, mit denen man gestern Abend die Schwiegertochter und Braut des einzigen Sohnes empfangen wollte; sie war leise durch den langen Corridor geschlichen und hatte an der Thür von Army’s Zimmer gehorcht; die Schritte des ruhelos auf und ab Wandernden waren tröstlich in ihr Ohr geklungen. Und nun saß sie wieder und lauschte dem Athem der fiebernden Mutter und hauchte dann und wann einen leisen Kuß auf die feinen Hände, die sich so fest gegen die rasch athmende Brust gepreßt hatten. Der graue Schimmer des erwachenden Tages brach durch die Vorhänge und färbte sich nach und nach mit mattrosigem Lichte.

Nelly trat zum Fenster: dort unten lag der Park; die Blätter der Bäume hingen naß und schwer auf den bereiften Boden; funkelnd schauten die rothen Kronen der Ebereschen aus dem herbstlich gelben Laube hervor, und über dem Walde schwebte ein feiner weißer Nebel, der in den Wipfeln der hohen Bäume des Parkes wie ein leichter duftiger Schleier hing, rosig durchwebt von der aufgehenden Sonne. Müde und übernächtig lehnte Nelly den Kopf an die Scheiben und schloß die Augen – da hörte sie ein Geräusch hinter sich, das Rücken eines Stuhles.

„Mama!“ rief sie, als sie die Mutter mit fieberhafter Eile ein Kleidungsstück nach dem andern anlegen sah.

„Ich habe so lange geschlafen Nelly, und habe nicht einmal den Army getröstet; es ist schon Morgen – nein, laß mich, ich muß zu ihm; er soll nicht den Glauben an die Menschheit ganz verlieren; er ist noch viel zu jung dazu. Halte mich nicht zurück, Nelly; er wird nicht schlafen; es schläft sich nicht so leicht nach solchem Kummer.“ Sie litt kaum, daß das junge Mädchen ihr ein Tuch umlegte, und eilte durch das Wohnzimmer hinaus.

Die Kleine wagte nicht ihr zu folgen; sie schlich sich an die Nebenthür und horchte; da plötzlich ein gellender Schrei! Hastig stürzte sie hinaus und flog durch den langen Corridor. Die Thür zu des Bruders Zimmer war geöffnet; drinnen stand die Mutter und hielt sich bebend an der Tischplatte.

Nelly übersah in einem Moment das Gemach – dort das alte Himmelbett, die Kissen zerwühlt, auf dem Tische eine halb geleerte Flasche Wein, daneben ein Glas, über dem Sopha die leere Tapete; das große Bild, das dort gehangen, lehnte mit der Vorderseite gegen die Wand; dort lagen die Epaulettes neben dem Degen auf dem Stuhle – aber Army – wo war Army –?

„Er ist fort!“ stammelten die bleichen Lippen der zitternden Frau, „er ist fort, Nelly – wenn er – wenn er wie sein Vater –?“

„Was denn, Mama? Was denn um Gotteswillen?“

„Wenn er, Nelly, wenn er – o, ich – Jesus Christus!“ sagte sie wie abwesend. „Eile, Nelly, such’ ihn!“ bat sie dann hastig, „ich kann ja nicht; sag ihm, er soll bei mir bleiben! Einmal hätte ich das Schreckliche erlebt – einmal, das ist genug; ein zweites Mal ertrüg’ ich’s nicht.“

„Mama,“ bat Nelly in Todesangst, „was meinst Du?“

„Rasch, rasch! So geh’, so eile doch! Er soll nicht sterben; er soll leben. Geh’, sonst bringen sie ihn mir auch so bleich und blutig –“ sie schauderte und wies hinaus zur Thür.

Das geängstigte Kind hatte die Mutter begriffen, und wie mit Geierkrallen faßte die Angst auch ihr Herz; sie floh aus dem Zimmer – wo, wo sollte sie doch zuerst suchen? Mechanisch lief sie die Treppe hinunter; die Pforte im Thurme stand angelehnt; in jäher Hast floh sie über den Schloßplatz, vorbei an den steinernen Bären, in den Lindengang. Des Bruders verzweifeltes Gebahren, die schreckliche Andeutung in Betreff ihres Vaters – dämmerte doch jetzt in ihr eine entsetzliche Gewißheit auf! Sie preßte die Hände auf die Brust und stand still. Wo konnte Army sein?

„Army!“ rief sie, aber es war, als wollte der Schrei nicht aus der Kehle. „Army!“ – es blieb ringsum todtenstill.

Feucht und naß lagen die welken Blätter ihr zu Füßen; ein paar kleine Vögel flatterten in den Aesten und schauten mit neugierigen schwarzen Augen zu dem geängstigten jungen Menschenkinde hinunter; „Army!“ stieß sie noch einmal mit Aufbietung aller Kraft hervor, und dann einen langhallenden Ruf – wie ein Jauchzen klang es; so hatten sie sich als Kinder immer gerufen; das mußte er hören.

Kein Laut gab ihr Antwort; nur ein Flüstern durch die alten Lindenbäume, als schüttelten sie verneinend die Häupter, um zu sagen: er ist nicht hier. Am Teich vielleicht, am Teich – dachte sie, und als sie durch die dichten Gebüsche eilte, da ergriff sie ein nie gekanntes Grausen in dieser Stille, dieser Einsamkeit. Wie, wenn sie ihn fände? Wenn er nicht mehr hören könnte, daß sie ihn rief? Wenn er bleich und butig –? Das Herz preßte sich ihr zusammen, aber sie schritt vorwärts.

Da lag das kleine dunkle Gewässer so ruhig, als gäbe es

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 785. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_785.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2016)