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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


selbst gesunde Nerven zerrüttet, muß auf die angegriffenen wie Gift wirken.

Daß man die Nerven nicht wie die Darmsaiten einer Geige mit Colophonium anstreichen kann, um sie besser tönen zu machen, sollte sich jeder vernünftige Mensch selber sagen, aber das und nichts Anderes behauptet dieser Pfuscherschwindel. Wann wird das Gesetz kommen, welches alle Anpreisungen von Geheimmitteln verbietet?



Im Dienste des Halbmonds.
Reminiscenzen eines deutschen Arztes.

Auf dem Lloyddampfer, der uns von Triest nach Constantinopel brachte, lernten wir uns kennen, fünf Mediciner, welche sich dem Sanitätsdienste unter dem Halbmond widmen wollten: drei Deutsche, ein Ungar und ein Siebenbürger. Uns Deutsche führte das Schicksal weit aus einander und doch schließlich wieder zusammen, und ewig lieb und theuer bleiben wird mir die Erinnerung an meine Landsleute Dr. Schücking und Dr. Weiß.

Siehe Neapel und stirb! Siehe Stambul und schweig! denke ich und erlasse mir damit jede Beschreibung, die doch von der Pracht der orientalischen Residenz ein zu dürftiges Bild geben würde. Wir hielten, nachdem wir am frühen Morgen angekommen, noch selbigen Tages unsere feierliche Auffahrt im Seraskierat, dem Kriegsministerium. „Schön ist ein Cylinderhut, wenn man ihn besitzen thut,“ dachte der Altpreuße und erschien in angeborener Achtung vor hohen Ministerien und Excellenzen in Frack und Chapeau-claque, der Ungar hatte in seiner Sympathie für die muselmanischen Stammesbrüder bereits den communistischen Fez seinem gut entwickelten Hinterkopfe aufgedrückt, wir Anderen kamen in treuer Anhänglichkeit an das Alte – abgesehen von anderen Gründen – in unserem Reise-, Salon- und Gesellschaftsanzug.

Im Orient muß man sich an das stete Tragen von Ueberschuhen gewöhnen. Das Wohnzimmer des gewöhnlichsten Hauses kann man nicht mit denselben Schuhen betreten, die eben noch das Straßenpflaster berührt haben; wer keine Ueberschuhe trägt, der niedrige Mann, läßt überhaupt seine Schuhe draußen und macht seinen Besuch in Strümpfen.

Wir, mit dieser Sitte noch nicht bekannt, entgingen dem Ansinnen des Treppenhüters, unsere Stiefeln für die Dauer der Audienz in seiner Obhut zu lassen, nur durch die Intervention eines höheren türkischen Beamten, der in uns sofort Ausländer von nicht ganz obscurer Bedeutung erkannte. Er beschied uns auch zur Medicinalabtheilung des Seraskierats. Wir traten ein durch die rothe Portière – ein Lärm schallte uns da entgegen, ein Tabaksqualm legte sich uns vor die Augen wie beim Eintritt in ein besuchtes Wiener Kaffeehaus niederen Ranges.

Nachdem wir uns an Lärm und Dampf gewöhnt hatten, suchten wir unter den Anwesenden Seine Excellenz Nouri Pascha, an den wir unsere Accreditive abzugeben hatten; man zeigte uns ein dickes Männchen, das in der Ecke des Salons auf einem Sessel hockte und freundlich lächelnd die Perlen seiner Spielschnur durch die Finger gleiten ließ. Er bat uns Platz zu nehmen und lächelte weiter. Man brachte uns Kaffee, und da absolut von keiner Seite weiter uns irgend welche Beachtung geschenkt wurde, so folgten wir dem Beispiele der meisten Anwesenden und rauchten eine Cigarette nach der andern. Während dessen hatten wir Zeit und Gelegenheit, uns etwas umzusehen und das Treiben im hohen Seraskierat zu beobachten. An der einen Wand des Salons saßen auf Teppichen verschiedene Schreiber; neben jedem stand eine große Kiste, mit beschriebenen Papieren gefüllt. Bisweilen wurde von einem der Schreiber aus seiner Kiste ein bunter Haufen Schriftstücke hervorgeholt und so lange durchwühlt, bis er das Gesuchte fand. Von Zeit zu Zeit mußte Nouri Pascha untersiegeln, was mit großer Umständlichkeit und Wichtigkeit geschah. Dazwischen kamen Soldaten oder solche, die es werden sollten, aber vorzogen, sich gleich von der obersten Behörde für dienstuntauglich erklären zu lassen, Invalide, um die ihnen zugesagte Unterstützung erst noch zu erbetteln. Verwundete und Kranke kleideten sich ungenirt aus, um ihre Gebrechen ad oculos zu demonstriren. Selbst ein Bettler trat auf, mit unverschämt jämmerlicher Miene, und machte an uns Fremden einen guten Fang.

Endlich erschien die Hauptperson auf dem Schauplatze, Seine Omnipotenz der Secretär von Nouri Pascha. Er sah die Papiere nach und bat uns, nach zwei Tagen zur Empfangnahme unserer Ordres wieder zu erscheinen.

Mit Allah für Sultan und Vaterland! Als Dr. Schücking und ich – uns beide hatte die Ordre getroffen, auf den unmittelbaren Kriegsschauplatz und zwar zuerst nach Orchanie abzugehen – als wir nach zweitägiger Eisenbahnfahrt in Tatar Bazardjik, der damaligen Endstation der ottomanischen Bahn, ankamen, zeigten sich schon die Schwierigkeiten einer Reise durch diese Gegend bei Kriegszeiten. Nachdem wir die Nacht in einer widrig schmutzigen italienischen Locanda, dem einzigen Gasthause, wo wir noch Platz finden konnten, durchwacht hatten, begaben wir uns der Weisung des Seraskierats gemäß zum Kaimakam (Militärgouverneur) der Stadt, um denselben für unsere Weiterbeförderung zu interessiren. Ein armenischer Arzt, dessen Praxis und Apotheke wegen der Kriegsläufte nicht in gehörigem Zuge war, machte gegen den üblichen Bakschisch den Dolmetscher. Wagen, die wir wünschten, behauptete der Kaimakam beim besten Willen nicht auftreiben zu können, aber Pferde nach Belieben, jedoch nur mit den gewöhnlichen Packsätteln. Der Europäer, der zum ersten Mal sich einen solchen Türkensattel besieht, hält ein Reiten darauf, wenn nicht für unmöglich, so doch für höchst problematisch und unbequem. Also durchwanderten und durchmusterten wir den Bazar und kauften uns schließlich zwei alte lederne Sättel.

Gegen Mittag kam eine Heerde kleiner Pferde vor der Locanda angetrappelt, dahinter her mit Stöcken einige schmutzige rumelische Jungen. Bald erschien auch, sein Pferd am Zaum führend, ein türkischer Gensd’arm und machte uns nach der schuldigen Begrüßung durch grinsende Mimik begreiflich, daß er trotz seines schuftigen Aussehens ein famoser Kerl sei und uns begleiten solle. Er legte auf zwei Pferde unsere Sättel; auf drei andere wurde unsere Bagage vertheilt, und wir stiegen auf. Bei letzterem Unternehmen konnte ich mich bereits wegen des bedenklichen Wackelns meines zukünftigen Leibrosses einer dunklen Ahnung nicht erwehren.

Als wir zwei oder drei Stunden geritten waren und der Weg anfing steil und stellenweise uneben zu werden, wurde der Gang meiner Rosinante immer unsicherer, sie verfiel von einem Fehltritt in den anderen, zuletzt war sie nicht mehr, weder mit Gewalt noch Güte, fort zu bringen. Sie hatte aber kein Gesicht wie der Esel Bileam’s, sprach auch kein Wort; sie blieb stumm und – blind, auf beiden Augen stockblind, wie ich mich nach dem Absteigen überzeugen konnte. Die Treiber mit den Packpferden waren noch weit zurück, der Gensd’arm vorgeritten, um Quartier zu machen. So mußte ich denn das arme Thier fürsichtiglich über Stock und Stein geleiten, bis endlich der Gensd’arm zurück kam und mir sein Pferd zur Benutzung überließ. Wir erreichten in kurzer Zeit ein Dorf, fanden das bestellte Quartier ziemlich erträglich, und bald wob uns zum ersten Mal unter bulgarischem Dache der Traum seine lieben Bilder aus Vergangenheit und Zukunft.

Noch einen ähnlichen Ritt auf einem anderen Packpferde, noch eine zweitägige Fahrt von Ichtiman nach Sofia in einem Schubkarren, der von einem gaulähnlichen Viergebein ruckweise nach dem Tempo von Stockschlägen fortgeschoben wurde, und wir rasselten in die krummen Straßen von Sofia hinein. Hier ruhten wir einen Tag aus und bestellten uns auf den anderen Morgen Schnellpost, die allerdings eine schwere Menge Geld kostete, uns aber auch mit geradezu rasender Schnelligkeit über die Höhen des Balkan nach Orchanie, dem Schauplatze unserer zukünftigen Thätigkeit, beförderte, wo wir noch am Abend unser Quartier in eitler Bulgarenhütte aufschlugen.

An der Spitze des Militärhospitals und der Ambulanzen von Sofia bis Plewna stand Temple Bey, ein Mann, der alles Andere eher war, als Mediciner. Englischer Renegat, war er durch die Vermittelung einer einflußreichen Haremsdame zu diesem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 780. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_780.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)