Seite:Die Gartenlaube (1878) 759.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

war, und erzählt, wie dort Alles so herrlich, der Bauer reich, das Leben wechselvoll, die Bildung groß sei, und dies Alles, weil dort Regierung und Volk ganz anders seien. Und darum müsse auch hier Alles anders werden, und es komme nur darauf an, daß sich Männer fänden, es zu wollen – dann werde es anders werden. Warum sollte denn das nicht wahr sein? Und der Student liest Büchner oder die Schriften Tschernichewski’s, und wenn die Zeit des Examens kommt, fällt er durch und muß die Universität verlassen. Wohin soll er sich wenden? Ins Dorf zurück, in die ewige Nacht dieser Einöde? Nein, nimmermehr! Der Kreis ist ja bald gefunden, wo das Höchste an Leistung, an Ruhm, an Thaten geboten wird: mit Gleichgesinnten vereint wird die Umwälzung unternommen, die absolute Umwälzung des Bestehenden. Denn nur die heutige Form ist ja an Allem schuld; das Volk, das Land, warum sollten sie von Natur anders sein, als jene reichen Länder und Völker der Gleichheit und Freiheit? Wie erhebend ist es, so Gewaltiges zu unternehmen, mit Gleichgesinnten Gleiches zu wirken, überall hin den allumfassenden Gedanken zu tragen, Alles zu theilen mit den Genossen für den großen Zweck! Nicht lange besinnt sich der Zwanzigjährige; am kürzesten besinnt sich gerade der Slave, wenn er von einer Empfindung ergriffen wird. Er grübelt nicht, denkt nicht nach über die Ziele seines Thuns; es hat Revolutionen gegeben überall; es hat Freiheit gegeben überall – warum nicht in Rußland? Das Wie mag sich nachher finden, das Was ebenso. Und so wandert er hinaus, als Arbeiter unter die Arbeiter des Dorfes, der Fabrik, als Lehrer in die Volksschule und lehrt seine Revolution. Und Söhne vornehmer Eltern, Töchter aus vornehmen Häusern legen in der That die Sitten und Kleider der Cultur ab und stehen barfuß an der Spule in der Fabrik oder am Bottich in der Brennerei, um nach der Arbeit ihren Mitarbeitern von dem großen Elende des Volkes und der großen Revolution zu erzählen.

Der ungeheuere Gegensatz zwischen dem Leben und Denken des einfachen Russen aus dem Dorfe und dem Leben und den Gedanken Europas, wie eine tausend Jahre alte Geschichte und stete Entwickelung sie herausgebildet haben – das ist es, was hauptsächlich diese Erscheinungen voll weitklaffenden Widerspruchs in Rußland hervorruft. Und wo das Selbstbewußtsein im Einzelnen einmal geweckt ist, da steigert es sich alsbald doppelt und dreifach durch den Gegendruck der Staatsgewalt. Es ist ein pathologisches Interesse, was uns zuerst ergreift bei Betrachtung jener Mädchen und Jünglinge, die im December 1877 vor der Kasaner Kirche in St. Petersburg tumultuirten und von dem Volke der Straße der Polizei überantwortet wurden. Es ist ein pathologisches Interesse, welches uns diese Wera Sassulitsch beobachten läßt, welche vor zehn Jahren der politischen Verbindung mit jenem von der Schweiz an Rußland ausgelieferten und nach Sibirien verbannten Netschajew verdächtigt wurde, welche dann, von einem Gefängnisse zum anderen geschleppt ohne Rechtsspruch, ihre Jugend mit gemeinen Verbrechern zusammen oder in elenden Orten des nordöstlichen Rußlands unter öffentlicher Aufsicht verbringen mußte und welche dann eines Tages von der Nachricht der harten Behandlung eines wegen Nihilismus Verurtheilten so sehr ergriffen wurde, daß sie sich zum Urheber dieser Härte, einem der höchsten Staatsbeamten, durcharbeitete und ihn mit dem Revolver bestrafte.

Gegen diese Kraft des Willens und Fühlens, welcher in der Oeffentlichkeit des russischen Reiches keine ruhige Bethätigung ermöglicht, welche auf die Maulwurfsarbeit unklarer Agitation beschränkt ist, konnte bisher mit allen den alten Gewaltmitteln der Abschreckung und Einschüchterung nichts ausgerichtet werden. Seit der Transportirung Netschajew’s, seit den schweren Verurtheilungen im großen Nihilistenproceß von 1877, und dem genannten Angriffe auf den obersten Polizeichef hat sich die Bewegung vielmehr unter den Wirrungen und Aufregungen des Orientkrieges in fortwährenden Aeußerungen und Explosionen kundgegeben, die unzweideutiges Zeugniß ablegen von dem Vorhandensein einer für den Staat und die persönliche Sicherheit höchst gefährlichen Gährung. Nicht gar lange nachdem Wera Sassulitsch wegen ihres Attentats auf Trepow von den Petersburger Geschworenen freigesprochen worden, endete ein ganz ähnlicher Proceß vor den Geschworenen in Moskau mit demselben Resultat. Und bei den Fällen, die zu gerichtlicher Entscheidung kamen, blieb es nicht. In der Morgenfrühe eines schönen Sommertages wird auf offener Straße ein in Petersburg aus der Kirche heimkehrender hoher Staatsbeamter erstochen, und die vornehm aussehenden Thäter fahren in ihrem bereit stehenden eleganten Fuhrwerk davon, ohne daß bis jetzt eine Spur von ihnen entdeckt wurde. Dabei laufen aus den verschiebenden Theilen des Reiches Berichte von aufrührerischen Bewegungen, gewaltsamen Auflehnungen und Widerspänstigkeiten der Nihilisten und Nihilistenschwärmer ein, und die massenweise Verhaftungen und Bestrafungen scheinen mehr für die Steigerung und Verbreitung des Unheils, als für seine Beseitigung zu wirken. Aus den philosophischen Träumern und düsteren Phantasten sind verzweifelte und entschlossene Rebellen geworden, die das Martyrium nicht fürchten und ihre Zwecke zunächst mit der Waffe des Dolches und Revolvers verfolgen.

Und dies Alles scheint nicht mehr das Werk zufälliger Regungen einzelner exaltirter Köpfe, oder zufällig und gelegentlich sich zusammenfindender Menschenhaufen zu sein. Wie aus Briefen und Decreten eines „Allgemeinen russischen Comités für revolutionäre Propaganda“ hervorgeht, die ganz offen an bestimmte Adressen gerichtet werden, besteht eine lautlos wirkende, bis jetzt unfind- und unfaßbare Organisation, die in jeder größeren Stadt ihre Abtheilungen hat und von welcher die betreffende Bewegungen und Unternehmungen geplant, befohlen und geleitet werden. Einige Uebertreibung in der Vorstellung von der eigenen Macht, etwas renommistisches Flunkern und Klappern wird in diesen Schriftstücken des geheimen Revolutionscomités wohl mit unterlaufen, die als Wappen ein Beil zwischen einem Revolver und Dolch zeigen. Aber eine ganze Reihe unleugbarer Thatsachen läßt gleichwohl die Lage dieser Verhältnisse als eine drohende erkennen. Kein europäisches Land und am wenigsten das benachbarte deutsche Volk hat ein Interesse dabei, in Rußland das Verbrechen als eine öffentliche Gewalt etablirt und solche wüste Krankheitszustände zu ansteckender Ausdehnung gelangen zu sehen, welche bei ihrem ungestörten Fortgange auch für uns eine unangenehme Bedeutung gewinnen könnten. So niedrig nun aber auch der Werth der politischen Ideale wie des politischen Denkens der Nihilisten steht, man kann immerhin nicht leugnen, daß eine gewisse Kraft des Willens und des Fühlens sich in ihnen, in den heutigen Vertretern dieses Namens kundgiebt, wie wir dies ebenso bei den westeuropäischen Genossen des russischen Nihilismus, bei der internationalen Socialdemokratie vor Augen haben. Um so mehr muß verständige Einsicht auf den Wunsch Nachdruck legen, daß man dort auch den Gewaltmaßregeln ernstgemeinte politische und volksthümliche Reformen zur Seite gehen lasse, welche Licht in die Köpfe bringen und jenen so vielfach kraft- und geistvollen Elementen den Weg zu erfolgreichem und ehrenvollem Wirken für das Gemeinwohl zeigen. Für die loyale und eingehende Erörterung dieser großen Fragen sollten die officiösen russischen Federn sich patriotisch die Genehmigung erkämpfen, statt daß sie neuerdings wieder ohne jeden ersichtlichen Grund einem glühenden und sicher dem Beruhigungswerke nicht dienlichen Racenhasse gegen Deutschland Luft zu machen suchen.

E. v. d. Brüggen.




Der gefesselte Ballon der Pariser Weltausstellung.

Wenn es auch im Allgemeinen wahr sein mag, daß man sich, wenn man vor kurzem einen „Weltjahrmarkt“ besucht hat, die nächsten erlassen darf, da sie erst in Jahrzehnten eine wirklich veränderte Physiognomie zeigen können, so hat doch der neueste jedenfalls Etwas vor allen früheren voraus, den „Great-Eastern unter den Luftballons“. Es ist ja richtig, schon die Pariser Weltausstellung von 1867 verdankte demselben Aussteller ein ähnliches Titanenwerk, aber gegen den Nachfolger betrachtet, war das nur so ein Ballon d’essai, wie die Diplomaten sagen, ein Probeballon, der höchstens ein Dutzend Personen 200 Meter emporführte, während wir heute unsere „Spritzfahrt in’s Blaue“ zu 40 bis 50 Personen gemeinschaftlich unternehmen und bis

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 759. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_759.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)