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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Lieschen war aufgesprungen, versuchte aber nicht mehr zu fliehen, sondern blieb regungslos stehen. Das Abendroth verglühte eben am Himmel, seinen purpurnen Schein durch das Fenster werfend, und umwob die reizende Mädchengestalt mit rosigem Lichte. Die alte Baronin schreckte zurück, als sähe sie ein Gespenst, und streckte erschreckt die Hände gegen sie aus. „Dio mio! Es ist unerhört!“ rief sie, und trat mit dem Fuße auf. „Sind Sie immer nur hier, um mich zu erschrecken?“

„Es thut mir leid, Frau Baronin, daß ich stets das Unglück habe –“

„Allerdings wunderhar, vor solch einer holden Erscheinung zu erschrecken!“ sagte der Oberst; er war in den Rahmen der Thür getreten und schaute bewundernd zu dem jungen Mädchen hinüber. „Darf ich bitten, meine Gnädige, der jungen Dame mich vorzustellen?“

Die Angeredete zuckte mit den Achseln, indem sie einen beinahe mitleidigen Blick auf den alten Herrn warf, und trat zum Fenster.

„Nun, dann muß ich mich selbst vorstellen, mein Fräulein – Oberst von Derenberg!“ sagte er verbindlich.

„Dies ist meine Freundin, Onkel, Lieschen Erving,“ ergänzte Nelly die Vorstellung. Das junge Mädchen verbeugte sich leicht.

„Erving?“ wiederholte fragend der alte Herr.

„Die Tochter des jetzigen Besitzers der Derenberg’schen Forsten, Onkel,“ bestätigte Nelly und heftete ihre Augen voll auf sein etwas geröthetes Gesicht.

„Ah so,“ erwiderte er. Darum kam mir der Name so bekannt vor. „Ihr Herr Vater ist wahrscheinlich ein Liebhaber des edlen Waidwerks?“

„Ja, Herr Oberst, und außerdem verbraucht er viel Holz in seiner Papierfabrik.“

„Ah, eine Papierfabrik besitzt Ihr Herr Vater? Aber Holz – ich meine, das bessere Papier soll meistenteils aus Lumpen gemacht werden?“

Ueber Lieschen’s Gesicht zog ein schalkhaftes Lächeln.

„Gewiß, Herr Oberst. Darum heißt auch unsere Fabrik in der ganzen Umgegend die Lumpenmühle, mein Vater der Lumpenmüller und ich Lumpenmüllers Lieschen.“ Sie lachte jetzt wirklich über das ganze liebliche Gesicht.

„Lumpenmüllers Lieschen?“ wiederholte der Oberst ebenfalls lächelnd und sah belustigt zu ihr hinüber. „Das ist allerdings ein Name, der nicht für Sie zu passen scheint.“

„Ich trage ihn doch gern,“ sagte sie, „jedes Kind nennt mich so, schon immer haben die Töchter aus unserem Hause diesen Beinamen gehabt, entweder Lumpenmüllers Grethchen, oder Minchen, oder Lisett–“. Sie erschrak, als die diesen Namen so unabsichtlich aussprach, und sah scheu zu der alten Dame hinüber, die noch immer am Fenster stand und sich eben jetzt so rasch umwandte, als habe sie eine Natter gebissen.

„Lisett?“ wiederholte sie. „Sie haben da eben einen Namen genannt, auf den Sie sich nicht so stolz berufen sollten; diese Lisett war eine Leichtsinnige, die ihren Eltern viel Kummer gemacht hat –“

„Das Andenken an Großtante Lisett ist mir heilig,“ erwiderte das junge Mädchen scheinbar ruhig, „sie war nicht leichtsinnig; sie war nur sehr unglücklich, aber, wie man mir versichert, nicht durch eigene Schuld, Frau Baronin.“ Ihre Lippen zuckten vor Erregung, als sie diese Worte sprach, und aus ihrer Stimme klang das stürmische Klopfen ihres Herzens.

„Was ist das für eine Lisett? Wer war sie?“ erkundigte sich Blanka lebhaft, die eben in’s Zimmer trat. „Wer schmäht sie, und was hat sie denn verbrochen?“ Sie stand jetzt zwischen Lieschen und der Großmutter, und ihr Köpfchen wandte sich rasch von der Einen zur Andern.

„Sei nicht so bodenlos neugierig, mein Kind!“ beruhigte der Oberst, „ich sagte es Dir schon einmal, alte Schlösser haben ihre Geheimnisse, und –“

„Wer sagt Ihnen denn, Oberst, daß, das Schloß etwas mit jener Angelegenheit zu thun hat?“ Die alte Dame war leichenblaß geworden.

„Je nun,“ erwiderte er bedächtig, und sah scharf zu ihr hinüber, „ich combinire gern –“

„Sehr bedauerlich, Herr Oberst, daß Sie nicht Romandichter geworden sind! Sie haben ihre Carrière verfehlt.“

„Adieu, Nelly,“ flüsterte Lieschen, sich zu ihr niederbeugend und einen Kuß auf die Wange der Freundin drückend, dann verneigte sie sich leicht gegen die Anwesenden und schritt aus dem Zimmer; sie floh förmlich den Corridor entlang und über den freien Platz vor dem Schlosse. In der Lindenallee stand sie plötzlich vor – Army.

„Fräulein Erving –“ Sie sah zu ihm auf; seine Züge waren ernst. „Fräulein Erving –“ wiederholte er – „haben Sie gehört, was dort gesprochen wurde in unserer Wohnstube?“

„Ja!“ erwiderte sie fest.

„Es ist nicht gerade sehr – wie soll ich sagen? – sehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 753. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_753.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2016)