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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

mir ein, Lieschen, der Army war ja hier. Ich sah ihn von der Post kommen , als er gerade angelangt war, à la bonheur, ist das ein hübscher Junge geworden! Hast ihn gesehen, Kleine?“

Lieschen nickte, aber sie war dunkelroth geworden; die Muhme sah auch gar zu scharf herüber.

„Es kränkt mich aber doch,“ fuhr der Pastor fort, „daß er es nicht der Mühe werth hält, einmal mit zu uns heran zu kommen; es ist doch nicht hübsch, daß er seinen alten Lehrer nicht mehr kennt – das ist so ein Zug von der alten Baronin.“

„Sie können sich nicht allein beklagen,“ sagte die Hausfrau. „Hier ist er auch nicht gewesen. Aber Nelly kommt zu uns.“

„Ein allerliebstes Mädchen,“ meinte die Frau Pastorin.

„So recht dem Großvater ähnlich,“ tönte jetzt die Stimme der Muhme, „das war ein Mann. Na, aber: Wen unser Herrgott liebt, dem giebt er ein großes Leid.“

„Er hat ja wohl sehr unglücklich mit seiner Frau gelebt?“ fragte die Frau Pastorin, zu der Alten gewandt.

„O, Frau Pastorin, wo die hintritt, da kommt’s Unglück hinterdrein; sie hat nicht blos die eigene Familie zu Grunde gerichtet, auch über andere Häuser hat sie Kummer und Sorge genug gebracht.“

„Ja, sie muß toll gewirthschaftet haben,“ nickte der geistliche Herr, „man hört so mitunter etwas von den Dorfleuten.“

„Meine Familie könnte auch ein Lied davon singen, nicht wahr, Muhme?“ fragte der Hausherr.

„Das weiß der Allmächtige!“ rief die alte Frau „was sind für Thränen geflossen um dieses Weibes willen! Aber Gott hat sie alle gezählt,“ nickte sie rasch aufstehend und schritt aus dem Zimmer.

„Es thät’ gar nichts schaden,“ murmelte sie, als sie dann in ihr Stübchen trat und noch einmal Alles überdachte, was sie so bekümmerte, „es thät’ gar nichts schaden, wenn ich der Liesel die Geschichte erzählte; es könnte ihr doch ein Lichtel aufgehen, wie sie sind da droben.“

Dann stand sie auf, suchte einen Schlüssel hervor, ging leise aus dem Zimmer die Treppe hinan und schloß die Thür zu Lisett’s Stübchen auf.

Es war ein kleiner Raum, den sie betrat, und in dem Dämmerlicht, das bereits herrschte, konnte man kaum die einfache Ausstattung erkennen. Zwischen den Fenstern eine Kommode mit blitzenden Messingbeschlägen, darüber ein Spiegel in geschnitztem Holzrahmen, der oben seltsam geschnörkelt war, eine schmale Bettstelle, grün gestrichen und mit einer plumpen Rosenguirlande bemalt, davor ein winziges Tischchen mit drei Beinen und einem eingelegten Stern auf seiner Platte, und an der gegenüberliegenden Wand ein hochlehniges, dünnbeiniges Sopha, das ordentlich aufseufzte, als jetzt die Muhme sich hineinsetzte; über dem Bett hing ein kleines schwarzes Crucifix unter einem bunten Bilde, das ein Mädchen mit einer Taube in der Hand vorstellte, zwischen Bett und Fenster aber hatte ein Kleiderschrank mit aus dunklem Holze eingelegten Figuren Platz gefunden, während am andern Fenster ein kleiner Nähtisch mit einem hochlehnigen Stuhle davor stand. Unter dem Spiegel hing ein verwelkter Kranz mit verblaßter blauer Schleife, der seltsam contrastirte mit dem duftigen frischen Fliederstrauß in dem alten geschliffenen Glase auf der Kommode. Letzteres Liebeszeichen stellte die Muhme alljährlich hin, wenn der Flieder blühte; die einstige Bewohnerin hatte die blauen Blüthen so sehr geliebt, und diese Zeit rief immer ein schmerzlich süßes Gedenken in dem Herzen der Alten wach.

So saß sie nun heute Abend wieder in dem Stübchen der schönen Lisett, und in ihrer Seele mischten sich Vergangenheit und Gegenwart: es war ihr, als sei sie wieder das frische junge Mädchen, und die schlanke Gestalt der Freundin stehe dort drüben am Fenster und blicke mit den schönen Augen so sehnsuchtsvoll zu dem südlichen Thurme des Schlosses hinüber. „Er kommt, Mariechen; er kommt – ich habe das Licht gesehen,“ hatte sie einst oft gerufen und dabei in seliger Freude die Hände zusammengeschlagen, und dann waren sie hinunter gegangen in den Garten, und da, in der dunklen Jasminlaube, da hatte dann ein schönes glückliches Liebespaar gesessen in aller Zucht und Ehrbarkeit – –

Und dann?

Dann lag sie auf jenem Bett, die schöne Gestalt, gebrochen unter der Last des Schmerzes, die Wangen schneeweiß und die blauen Augen voll heißer Fiebergluth.

War es nicht genug, einmal solche Qual ansehen zu müssen? „Herr Gott, behüt’ meinen Liebling, mein Liesel!“ betete sie und legte den Kopf auf die Lehne des Sophas. Die Hände sanken ihr eng gefaltet in den Schooß, während sich Thränen in die alten Augen drängten.

Da faßten ein Paar kleine Hände die ihren; eine weiche Wange schmiegte sich an die ihre, und als sie aufblickte, da schauten sie ein Paar tiefe blaue Augen an und eine leise Stimme fragte: „Was weinst Du denn, Muhme? Bist Du immer noch bös auf mich?“

Die alte Frau antwortete nicht sogleich; ihr war es, als sähe sie eine holde Erscheinung in diesem Augenblicke, dann aber fragte sie: „Wie kommst Du hierher, Liesel?“

„Verzeih, Muhme! Ich suchte Dich drunten in Deiner Stube; sie sprechen soviel von einem Baron Fritz und der Großtante Lisett, und da wollt ich Dich bitten, mir Etwas von ihnen zu erzählen, und bin Dir nun hierher nachgekommen.“

„Dann bist Du zur guten Stunde gekommen, Liesel! Laß sie unten immerhin sprechen. Es weiß es Keiner so gut wie ich, denn ich hab’ es mit erlebt; zwar wollt’ ich, Du solltest noch lange nicht wissen, wie bunt es manchmal im Leben hergeht, aber es ist besser für Dich – komm, setz Dich –!“

Das junge Mädchen gehorchte, nachdem sie sich scheu in dem Zimmer, in das sie nur einmal als kleines Mädchen einen Blick geworfen, umgesehen, und die alte Frau strich sich die Schürze glatt, und indem sie die Hände wieder faltete, schickte sie sich zum Sprechen an. Aber sie blieb doch stumm und blickte wie verlegen um sich. Sollte sie dem jungen Kinde die traurige Geschichte erzählen und Haß und Groll und verwirrendes Mißtrauen in die reine Seele streuen? Das Mädchen, das in stummer Erwartung da neben ihr saß, es war ja noch ein Kind; der Army flog ihr sicher bald aus dem Sinn – nein, sie durfte diese thränenvolle Geschichte nicht erzählen. Und doch – wenn sich’s noch einmal wiederholen sollte, und sie hätte ihren Liebling nicht gewarnt! „O, Du allgütiger Gott!“ murmelte sie leise, „was kann ich da schon thun?“

„Mach’ erst das Fenster auf, Liesel!“ bat sie; „die Luft ist hier so eingeschlossen.“

Das junge Mädchen öffnete beide Flügel; der Regen hatte aufgehört; nur so ein leises Tröpfeln von Blatt zu Blatt ging noch durch die alten Bäume, und jener frische Erdgeruch zog in das kleine Stübchen, der immer nach einem Regen die Luft erfüllt.

„Liesel,“ sagte sie dann halblaut.

„Muhme?“ fragte das junge Mädchen, und streichelte über das alte Gesicht.

„Liesel, Du – ich glaube, es wäre besser, Du gehst nicht mehr so oft zur Nelly, – – nachher, mein’ ich, später, wenn der Army wieder da ist, und die Cousine,“ begütigte sie, als Lieschen den Kopf mit dem Ausdruck der Ueberraschung zu ihr wandte. „Sieh, es ist nicht – ich denke – ich –“ sie stotterte und schwieg.

„Laß das, erzähle lieber von der Lisett!“ schmeichelte das junge Mädchen in der Angst, die Muhme könnte wieder auf das gefürchtete Thema von vorhin kommen.

„Was ich von der Lisett erzählen wollte?“ rief die alte Frau hastig, „das sag ich, daß sie das liebste Geschöpf auf Gottes weitem Erdboden war, und daß sie hat sterben müssen, nur weil – weil – – höre, Liesel, wenn jemals Einer was auf Deine Großtante sagt, dann widerstreit es, denn es hat nie ein reiner Herz gegeben, aber auch keines, das auf so schändliche Art gebrochen worden –“

Sie schwieg eine Weile.

„Geh’ nicht mehr auf’s Schloß, Liesel!“ fuhr sie fort, indem sie die Hand des Mädchens ergriff und heftig drückte; „sieh, ich kann Dir nicht Alles sagen, wie es war; es will mir nicht über die Lippen; später sollst Du es erfahren, aber glaub’ mir, es thut nicht gut, die alte Baronin, – die – –“

„Hängt das mit der Geschichte von Tante Lisett zusammen?“ fragte das junge Mädchen. „Sag’ es, Muhme, bitte, bitte!“

„Ich sag’ weder Ja noch Nein, Liesel,“ erwiderte diese, „aber das sag’ ich,“ rief sie feierlich, „es ist noch nicht aller Tage Abend, und wenn es ihr noch schlechter ginge auf Erden und sie käme als Bettlerin hier vor’s Haus, ich stieße sie fort und ließe sie weiter ziehn, denn wo die hintritt, da ist’s verflucht in alle Ewigkeit, und einmal im Leben, da werd’ ich ihr’s doch noch in’s Gesicht sagen, daß sie ein – –“

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