Seite:Die Gartenlaube (1878) 650.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

der Papiermühle dort unten im Grunde; sie schaute ihn an mit den sonnigen blauen Kinderaugen; die rothen Lippen öffneten sich. „Army, kommst Du mit? Wir wollen zur Muhme gehen; sie soll uns Aepfel geben, und ein Vogelnest habe ich gesehen im Park; komm, Army, komm!“ Mechanisch machte er eine Bewegung, als wolle er die Mütze ergreifen, die auf dem Tische lag. Der Schein der Lampe traf einen funkelnden Ring an seiner Hand, in dessen goldgrünem Steine das Bärenwappen der Derenbergs blinkte; flüchtig streifte sein Blick dasselbe, und hastig ergriff er die Mütze und warf sie auf einen Nebentisch.

„Quäle mich nicht!“ sagte er kurz und wandte sich ab.

Eine lange Pause entstand; das junge Mädchen erhob sich und setzte sich auf ihren früheren Platz, das Köpfchen tief über die Arbeit beugend, aber die kleinen Finger, welche die Nadel führten, zitterten heftig, und aus den Augen fielen große Tropfen auf das weiße Zeug. Die Baronin seufzte und heftete ihre Blicke mit schmerzlichem Ausdruck auf den Sohn, der unaufhörlich im Zimmer hin und her ging. Die alte Rococo-Uhr schlug die sechste Stunde und begann ein längst vergessenes Liebeslied zu spielen; die feine zierliche Mel‘odie klang verhallend durch das Gemach, und noch immer lag das Schweigen des Unmuths auf den drei Menschen, die doch die zärtlichste Liebe verband.

„Army,“ nahm endlich die blasse Frau das Wort, „wann gab Dir die Großmama den Ring, den Du jetzt am Finger trägst?“

Er blieb vor dem Kamine stehen, und indem er das Schüreisen in die Gluth stieß, daß die Funken hoch aufsprühten, sagte er:

„Heute Nachmittag, vorhin, als ich in ihrem Zimmer war.“

„Weißt Du auch, daß es Deines Vaters Ring ist, Army?“

Der junge Mann wandte sich plötzlich um. „Nein, Mama, das hat mir Großmama nicht gesagt; sie sprach nur im Allgemeinen von der Bedeutung des Wappens und –“

„Nun, mein Kind, so sage ich es Dir,“ kam es von den Lippen der Baronin, und es schien, als zitterte ihre Stimme vor innerer Erregung. „Es ist der Ring, den Großmama einst von der kalten erstarrten Hand Deines Vaters zog, als er – gestorben war.“ Die letzten Worte klangen wie ein halb erstickter Schrei. Die Redende sank wie gebrochen in den Sessel zurück.

„Meine liebe, gute Mama!“ rief Army und war schnell neben ihr, während Nelly, sich über sie beugend, die Wange an ihr thränenüberströmtes Gesicht schmiegte.

„Weine nicht, liebe Mama!“ bat er, „ich will den Ring so hoch in Ehren halten, wie es nur ein Sohn vermag, der stolz ist auf das Andenken seines Vaters; ich will mich bemühen, ebenso gut, so edel zu werden, wie er es war.“

Es lag in diesen Worten, in den Blicken, mit welchen er zu der weinenden Mutter aufschaute, noch die ganze Ueberzeugung eines unverdorbenen kindlichen Herzens, die ganze volle Pietät, die in dem verstorbenen Vater den besten Menschen sieht. Aber die Wirkung seiner Worte war eine beinahe vernichtende. Die schmächtige Gestalt der Baronin richtete sich aus dem Sessel empor; sie blickte wie geistesabwesend auf den Sohn, und: „Army, allmächtiger Gott!“ rief sie in dem Tone der Verzweiflung. „O, nur das nicht, nur das nicht!“

„Mama ist krank,“ sagte der Sohn und eilte zum Klingelzuge. Aber ein schwaches „Komm zurück, Army! Es geht schon vorüber,“ rief ihn an ihre Seite; sie nahm dankbar ein Glas Wasser und sagte, indem sie zu lächeln versuchte:

„Ich habe Euch erschreckt, Ihr armen Kinder. – Die Erinnerung an den Tod Eures Vaters ist mir noch heute eine tieftraurige, aber jetzt, wo Army im Begriff steht, in das Leben zu treten, muß ich mit Euch von der Vergangenheit sprechen, was ich bis jetzt immer zu vermeiden suchte. Ihr habt Euch wohl schon im Stillen gewundert,“ fuhr sie nach kurzer Pause fort, „daß wir ein so einfaches, zurückgezognes Leben führen, ein Leben, das eigentlich jedes Aufwandes entbehrt. Ach, Army, nicht meinetwegen schmerzt es mich – nur Euretwegen. Ihr tretet ein in die drückendsten Verhälnisse, die man sich denken kann, heraufbeschworen durch den grenzenlosen Leichtsinn Eures –“

Sie hielt erschrocken inne und brach in bitterliches Weinen aus.

Army stand mit finster gefalteter Stirn am Kamin und sah herüber zu der weinenden Frau; der sonnige Ausdruck seines Gesichtes war wie hinweggeweht, und um seinen Mund lag ein Zug bitterer Enttäuschung.

„Als ich hier einzog an der Seite Eures Vaters, ein Kind von eben sechszehn Jahren,“ nahm die Baronin wieder das Wort, „da fand ich hier Glanz und heiteres Leben. Schloß Derenberg war wegen seiner Gastfreiheit berühmt seit langen Jahren, und Eure Großmama verstand es, ein Haus zu machen. Sie war damals noch wunderschön, fast ebenso berückend wie auf ihrem großen Bilde oben im Ahnensaal, und sie liebte Glanz und Pracht. Mir erwies sie sich so gut und lieb, daß ich wirklich meinte, eine zweite Mutter in ihr gefunden zu haben. Ach, jene kurze glänzende Zeit war die schönste meines Lebens, und als ich Dich an’s Herz drücken durfte, mein Army, und Dich, meine Nelly, da fehlte nichts zu meinem Glücke. – Dann aber kam das Schreckliche: der Tod Eures Vaters; plötzlich und jäh brach das Unglück über uns herein.“

Sie schauderte und preßte die zitternden Hände an die Schläfen, als müsse sie sich besinnen, ob das, was sie da erzählte, auch wirklich schon einer fernen Vergangenheit angehöre.

„Nach seinem Tode wurde mir in der Person des alten Justizrathes Hellwig ein Curator beigegeben. Es fand sich, daß unsere Verhältnisse mehr als ungeordnet waren; wohin auch das Auge sich wendete – Hypotheken, Pfandscheine, unbezahlte Rechnungen; es war ein Wirrwarr sonder Gleichen, in den Großmama und ich uns plötzlich versetzt sahen. Wie viel schlaflose Nächte, wie viel kummervolle Stunden sind seitdem vergangen, und doch ist bis heute trotz der Bemühungen des alten Hellwig noch nicht Licht in dem Chaos geworden.“

„Rege Dich nicht auf, liebe Mama!“ bat der junge Officier, „ich wußte ja längst, daß wir in beschränkten Verhältnissen leben, wenn ich auch nicht ahnen konnte, daß wir so arm sind, aber fasse Muth! Es kommen gewiß auch wieder andere, bessere Zeiten, und Großmama hat mir erst vorhin gesagt, daß die Sachen durchaus nicht so verzweifelt liegen, da wir jedenfalls noch eine reiche Erbschaft von Tante Stontheim zu erwarten haben.“

„Großmama glaubt allerdings an diese Erbschaft, aber –“

„Sie meint,“ unterbrach eifrig der junge Mann die Mutter, „daß ich mich, ehe ich zu meinem Regiment gehe, Tante Stontheim vorstellen soll.“

„Ich habe nichts dawider, mein Kind, und wünsche lebhaft, Großmama irre sich nicht, aber zu bedenken bleibt, daß die Derenbergs in Königsburg ebenso erbberechtigt sind wie wir; der Tochter des Obersten von Derenberg vom sechszehnten Regiment gebührt dasselbe Recht wie Dir und Nelly.“

In diesem Augenblicke öffnete Sanna, die alte Dienerin der Baronin, die hohen Flügel der Thür, und die alte Baronin Derenberg trat in’s Zimmer; eine noch immer stattliche, gebietende Erscheinung, hielt sie sich tadellos gerade, trotz ihrer begonnenen sechszig Jahren sie trug ihre einfache graue Wollrobe mit derselben Würde und Anmuth, mit der sie einst in schwerster Seidenschleppe durch das Zimmer geschritten war. Ihr volles, noch immer dunkles Haar, an den Schläfen leicht zurückgenommen, bedeckte ein Häubchen, unter dessen gelblich angehauchter Spitzenkante die mächtigen schwarzen Augen hervorflammten. Ueber ihrer ganzen Erscheinung lag ein echt aristokratischer Hauch, und aus den seinen Zügen sprach der Ausdruck eines durch nichts zu demüthigenden Stolzes. Wie alt sah die vergrämte kränkelnde Schwiegertochter aus neben dieser imposanten Frauengestalt!

Army eilte ihr entgegen; er nahm ihr ein großes Buch ab, das sie in der Hand hielt, und führte sie dann zum Kamine, wo Sanna bereits mehrere Sessel geordnet hatte. Die Enkelin war ebenfalls rasch aufgesprungen, und die blasse Frau trocknete verstohlen die letzten Thränen aus den Augen.

„Wovon war hier die Rede?“ fragte die alte Baronin, indem sie am Kamine Platz genommen und die Dienerin mit einer Handbewegung entließ. „Ich hörte etwas von ‚denselben Rechten wie Army und Nelly‘.“

„Wir sprachen von Tante Stontheim und der Erbschaftsangelegenheit,“ erwiderte ihr die Schwiegertochter, sich ebenfalls an den Kamin setzend, „und dabei gedachte ich auch der Königsburger Derenbergs und meinte, Blanka von Derenberg sei ebenso gut zu der Erbschaft berechtigt wie unsere Kinder.“

„Blanka? Welche Idee!“ rief die alte Dame achselzucked, das rothhaarige, scrophulöse Geschöpf? Die Stontheim hat – Gott sei Dank! – einen zu guten Geschmack, um solchen Mißgriff zu thun; übrigens hatte sie auch, so viel ich mich erinnere, einen sehr gerechtfertigten Widerwillen gegen diesen großthuerischen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_650.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2016)