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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gratiana.
Eine Harzgeschichte von E. Vely.
(Schluß.)


Der Professor sandte einen schnellen Blick hinüber nach der alten Frau – o Scharfsinn der Weiber! Wie aber, wenn die schlichten Leute entdeckten, mit wem das Mädchen vom Hause des Lehrers heim ging, wer ihr Briefe sandte?

Gottlieb schüttelte den Kopf.

„Nein, Mutter – wer sollte denn das sein? Der Wilhelm, der ist zu alt für sie, und der Heinrich, den mag sie gar nicht leiden. Der kleine Kaufmann, dem der neue Laden an der Ecke gehört, der wiegt ihr fast doppelt so viel zu, wie sie fordert – aber sie achtet nicht auf das, was er sagt. Nein da irrt Ihr Euch.“

„Ach was!“ meinte die Alte, „‚Mädchenherzen sind wie Schnee im Märzen’, sagte schon meine Großmutter; wer weiß, was ihr plötzlich in den Sinn gekommen ist. Aber jetzt, Junge – Horch, da läutet’s zur Kirche – geh, Gottlieb! Wirst am schnellsten ruhig unter dem Gesang und der Predigt.“

„Guten Morgen, Ohm!“ rief eine frische Stimme in demselben Augenblicke, „ich wollte sehen, ob Du mitgehst, und zugleich sagen, daß ich eine Braut habe und zum Frühjahr Hochzeit mache.“

Mit einem Ruck sprang Gottlieb auf. „Conrad, das ist nicht möglich!“

„Doch, Ohm, gestern Abend hab ich mich versprochen – mit Lehrers Riekchen.“

„Lehrers Riekchen!“ sagten Mutter und Sohn in gleichem Tone des Staunens, und Vater Gottlieb setzte halb erstarrt hinzu: „Wie kam denn das?“

„Je nun, eigentlich hat die Jane Schuld daran. Ich wollte gern bald eine Frau haben, denn das Alter habe ich dazu ordentlich und fleißig sollte sie sein, und eine Sanfte hätte ich auch gerne gehabt, denn bei mir läuft’s oft quer über, und dann muß wer da sein, der Frieden macht. Wie wir nun gestern Abend heraufkamen von Zellerfeld, die Jane und Riekchen und ich, da meinte Jane, die immer so klug spricht: ‚Sieh mal, Conrad, Du gehst immer mit Riekchen im gleichen Schritt, das paßt zusammen, als ob Ihr ein Paar werden solltet. Ich hüpfe voraus oder komme nicht mit, aber Ihr – das ist ein Tact! Wenn das nur nichts zu bedeuten hat!‘ dabei lachte sie. ‚Was soll es bedeuten?‘ fragte ich und sah die Rieke an. Die wurde roth und schlug die Augen nieder. Wenn Mädchen roth werden, so hat das auch was zu bedeuten; das weiß man ja. Nun lobte mir die Jane den ganzen Weg, wie fleißig Rieke ist, daß mir dabei das Herz warm wurde. Und als ich hinunter geh’ – na, da ist es denn gekommen, Ohm, wie damals, als Du Deiner seligen Frau gesagt hast, daß Du sie leiden möchtest –“

„Glück auf! Glück auf!“ rief der Professor, der von Conrad noch gar nicht bemerkt worden war; er fuhr so hastig hinter dem Ofen hervor und auf den jungen Mann zu, um seine Hände zu fassen und zu schütteln, daß dieser vor Erstaunen über die Verlegenheit hinweg kam.

Vater Gottlieb streckte ihm etwas langsamer seine Rechte entgegen. „Die Rieke ist fleißig und sittsam, und Du wirst gut mit ihr fahren, aber ich dachte eigentlich – nun ist es doch zu spät – Du hättest um Jane gefreit.“

„Um Jane?“ wiederholte Conrad, und sein Gesicht erglühte wie Purpur, „aber Ohm, daran habe ich nie gedacht; die ist mir viel zu gescheidt.“

„Alle bösen Wetter! Zu gescheidt, ein schlichtes Bergmannsmädchen einem Bergmann – hol der Kukuk die Gelehrsamkeit – mit Respect zu sagen, Herr Professor, Sie dürfen das nicht für ungut nehmen. Der Lehrer, ja, ja – also Du hast nie daran gedacht, daß die Jane –“

„Nie, Ohm!“

„So – nun! Jetzt läutet es wieder zur Kirche – – jetzt können wir gehen. Nichts für ungut genommen, Herr Professor, von mir altem Brausekopf!“

„Nein, Vater Gottlieb.“

Die beiden Männer schritten hinaus; die Großmutter faltete die Hände.

„Die arme Jane,“ flüsterte sie, „so viel Herzeleid und Angst, und der Conrad hat sie nicht einmal gewollt – wie man sich doch irren kann! Ja, ja, Herr Professor, man wird alt.“

Ehrenfried dachte mit einem Gefühl der Beschämung, daß er doch nun gar nichts für Gratiana gethan; das ärgerte ihn. Er trat zu der alten Frau und ließ sich von ihr die Kirchgänger nennen, die an den Fenstern vorüber wanderten. Da hörte er plötzlich die Hinterthür leise knarren, Schritte über den Flur klingen – und dann war Gratiana neben der Großmutter. Sie trug ein schwarzes Sonntagsgewand, die schönen Haare wie immer geordnet. „Herr Professor – Großmutter, der Conrad – o, Großmutter, es ist Alles, Alles wieder gut,“ rief sie vor Freude strahlend.

Dann schluchzte sie auf und barg das thränenüberströmte Antlitz im Schooß der alten Frau.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_633.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2016)