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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Schluß.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.

„Wer ist hier?“ fuhr Georg auf. „Gabriele?“

„Mit ihrer Mutter. Sie wohnen schon seit einigen Wochen drüben in jener Villa. Die Baronin ist etwas leidend und hat sich der Behandlung eines unserer berühmtesten Aerzte anvertraut. Die Anknüpfung eines näheren Verkehrs zwischen uns und den beiden Damen ist natürlich unterblieben. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, welche Erinnerung Gabriele abhält, das Haus zu betreten, in dem ich weile.“

„So ist es gut, daß ich morgen schon abreise,“ sagte Georg in gepreßtem Tone. „Vielleicht wäre mir auch hier eine Begegnung nicht erspart geblieben, und gerade hier, wo meine Liebe und mein Glück begann, hätte ich das nicht ertragen.“

„Sie wollen also keine Annäherung versuchen? Bedenken Sie, Georg, es handelt sich um Ihr Lebensglück. Ich an Ihrer Stelle würde dieses ungeahnte Zusammentreffen gerade für einen Wink des Schicksals nehmen und noch einmal die entscheidende Frage stellen. Die Lebensstellung und noch mehr die Zukunft, welche Sie zu bieten haben, bewahrt Sie vor jeder Demüthigung, selbst wenn Sie um die Hand einer reichen Erbin werben. Sie hatten einst weniger in die Wagschale zu legen, als Sie der Baroneß Harder Ihre Liebe erklärten.“

„Damals war ich geliebt,“ rief Winterfeld mit aufquellender Bitterkeit, „oder ich glaubte wenigstens, es zu sein. Jetzt liegt die Abschiedsstunde zwischen uns, in der mir jener Traum vernichtet wurde, und Gabriele wird ihn am wenigsten zurückrufen wollen. Ich sah es oft genug an ihrem scheuen, ängstlichen Ausweichen, wie sehr sie eine Annäherung meinerseits fürchtet.“

„Und gerade diese Scheu sollte Sie ermutigen,“ warf Brunnow ein. „Nur an dem Gleichgültigen geht man kalt und fremd vorüber. Wagen Sie es wirklich nicht –?“

„Niemals!“ unterbrach ihn Georg ungestüm. „Soll ich wieder vor sie hintreten, um zum zweiten Male aus ihrem Munde zu hören, daß ihre Liebe einem Anderen gehört, daß sie selbst über das Grab hinaus nichts weiter kennt und liebt, als nur ihn allein? Einmal habe ich es ertragen, und das ist genug. – Lassen Sie uns abbrechen, Herr Doctor! Sie sehen es, ich bin nicht ruhig genug, über diesen Gegenstand zu sprechen.“

Brunnow schwieg. Das Gespräch wurde unterbrochen; denn Max trat ein, um den Freund wieder in Beschlag zu nehmen. Der Doctor ließ die Beiden allein und zog sich in sein Studirzimmer zurück. Wohl eine Viertelstunde lang ging er dort schweigend in tiefem Nachdenken auf und nieder, dann nahm er seinen Hut und verließ das Haus. –

Die Villa, welche Frau von Harder und ihre Tochter gegenwärtig bewohnten, war um Vieles prachtvoller und glänzender eingerichtet, als das kleine Landhaus, das ihnen bei ihrem ersten Hiersein zum Aufenthalte diente. Die Baronin hielt es für unumgänglich nothwendig, jetzt überall das standesmäßige Auftreten zu entfalten, das sie einst so schmerzlich vermißt hatte, und Gabriele fügte sich in allen Aeußerlichkeiten gleichgültig ihren Wünschen. Man hatte auch hier Equipage und Dienerschaft mitgebracht, und Frau von Harder war soeben zur Stadt gefahren, während ihre Tochter sich allein zu Hause befand.

Gabriele stand auf der Terrasse, die nach dem See hinausging. Die schlanke Gestalt mit dem blonden Haar und der hellen Kleidung lehnte leicht an der Balustrade. Die zarte knospenhafte Erscheinung des jungen Mädchens hatte sich in den vier Jahren zur vollsten Blüthe entfaltet. Es war noch das rosige Antlitz mit seinem bestrickenden Reize, aber dieser Reiz war ein anderer geworden. Man suchte vergebens den neckischen Uebermuth, die strahlende Heiterkeit; sie waren verschwunden, wie das sorglose Kinderglück, das einst aus den sonnigen braunen Augen lachte, aber dafür hatte dieses Antlitz gewonnen, was ihm einst fehlte, das Seelenvolle. Ob es in dem leisen Schmerzenszuge lag, der selbst bei dem Lächeln nicht weichen wollte, oder in dem Schatten, der tief im Auge weilte – genug, es war da und lieh der ganzen Erscheinung erst den vollen Zauber.

Gabriele blickte wie in Träume verloren in die Landschaft hinaus; sie wandte sich halb unwillig um, als der Diener erschien und ihr eine Karte überreichte; kaum war ihr Blick auf den Namen gefallen, so erbleichte sie, und die Karte zitterte in ihrer Hand.

„Der Herr bittet, die gnädige Baroneß in einer dringenden Angelegenheit sprechen zu dürfen,“ berichtete der Diener.

„Führen Sie ihn in den Salon!“ befahl sie und verließ die Terrasse, um den Besuch zu empfangen. Gleich darauf trat Doctor Brunnow in den Salon.

Ewige Secunden lang standen sich Beide schweigend gegenüber. Sie sahen sich zum ersten Male im Leben und wußten doch so viel von einander, als hätten sie sich jahrelang gekannt. Der alternde gebeugte Mann und das junge blühende Mädchen waren sich bis zu dieser Stunde fremd gewesen, und doch knüpfte ein Name – der Name eines Todten – ein unsichtbares Band zwischen ihnen.

Der Doctor verneigte sich und trat näher. Gabriele wich unwillkürlich vor ihm zurück. Er bemerkte es und blieb stehen.

„Sie erwarteten wohl nicht, daß ich Ihnen nahen würde, mein Fräulein,“ begann er. „Ich that es auf die Gefahr, zurückgewiesen zu werden. Mein Name hat eine unheilvolle Bedeutung für Sie gewonnen.“

Gabriele stand mit mühsam erzwungener Fassung da, die Farbe war noch nicht wieder in ihre Wange zurückgekehrt und ihre Stimme schwankte, als sie erwiderte:

„Ihr Kommen überrascht mich allerdings, Herr Doctor. Ich glaubte nicht, daß mich der Mann aufsuchen würde –“

„Von dessen Hand Arno Raven fiel,“ vollendete Brunnow. „Sie haben Recht, wen Sie vor dem zurückweichen, der ihm den Tod gab, aber glauben Sie mir, mein Fräulein, ich hätte lieber das tödtliche Geschoß auf meine eigene Brust gerichtet, als ihn fallen sehen.“

„Er hat Sie zu dem Duell gezwungen?“ fragte das junge Mädchen leise. „Ich ahnte es längst.“

„Ja, und in eine Weise gezwungen, die mir keine Wahl ließ. Hätte ich gewußt – – aber seine Waffe war so fest auf mich gerichtet! Wie konnte ich ahnen, daß er sie im entscheidenden Moment wenden würde! Meine Hand bebte und suchte unsicher den Ort, wo sie nur verwunden konnte, und dieses Beben wurde zum Verhängniß – ich traf mitten in das Herz des einstigen Freundes!“

Gabriele zuckte zusammen, aber der dumpfe Schmerz, der in jenen Worten zitterte, entwaffnete sie.

„Arno hat keinen Haß gegen Sie getragen,“ entgegnete sie. „Als er mir wenige Stunden vor seinem Tode seine ganze Vergangenheit enthüllte, da erfuhr ich auch, was Sie ihm gewesen sind. Vielleicht ebenso viel, wie er Ihnen war.“

„Und doch hat er mir das gethan!“ sagte Brunnow mit der tiefsten Bitterkeit. „Er wollte sterben, aber warum wählte er denn gerade die Hand des Jugendfreundes? Das war hart, viel härter, als mein Mißtrauen es verdient hat. Er mußte es wissen, welch eine Last er damit auf den Rest meines Lebens wälzte. Ich erliege ihr.“

Gabriele blickte in das bleiche, gramdurchfurchte Antlitz des Sprechenden, das deutlicher als alle Worte verrieth, was er gelitten hatte und noch litt. Sie fühlte, wie tief und heiß der Verlorene hier geliebt worden war, und das riß alle Schranken nieder; in ausbrechender Empfindung streckte sie dem Doctor ihre Hand entgegen.

„Ich wußte es, daß ich hier verstanden würde,“ sagte er, die Hand in die seinige schließend. „Arno hat Sie ja geliebt; das war mir genug.“

Auch sein Auge hing jetzt fest an den holden Zügen des jungen Mädchens, als suche er darin die Spuren des Vergangenen.

„Ich komme mit einer Bitte,“ nahm er nach kurzem Schweigen wieder das Wort. „Mit einer Bitte, die vielleicht kein Anderer aussprechen dürfte, ohne Sie zu verletzen. Ich habe Ihnen soeben bekannt, was mir Arno war, und eben deshalb werde Sie es nicht mißdeuten, wenn ich Ihnen sage, was mich herführt. Mein Sohn hat einen Freund –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_614.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2016)