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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

reichgeschmückte Dampfer, auf dem er stand, unter dem Jubel Tausender an der alten Rheinstadt anlegte, in der er die ganze Kümmerniß seiner Jugend verlebt hatte. „Meine Schwester habe ich gestern nur eine Viertelstunde, heute nebst der Mutter eine Stunde gesehen; sie sind Alle wohl und lassen Euch herzlichst grüßen,“ schreibt er an seine Frau. „Meine alte Mutter ist fast wahnsinnig geworden vor Freude, daß ihrem Sohn ein Fackelzug gebracht wurde; wie würde sie sich freuen, wenn Du mit den Kindern nach Köln kämst! Indessen es kann nicht sein. Beruhigen wir uns! Wir müssen der Zeit Opfer bringen.“ Die große versammelte Menge redete er mit den trauten Worten an: „Hier hat meine Wiege gestanden.“ Es war das letzte Mal, daß er seine Vaterstadt sah. Sieben Monate später waren die Kirchen derselben schwarz verhangen, und Ferdinand Freiligrath sang:

„So redet Köln! Und Orgelsturm entquillt dem Kirchenchore;
Es stehn die Säulen des Altars umhüllt mit Trauerflore;
Die Kerzen werfen matten Schein; die Weihrauchwolken ziehen,
Und tausend Augen werden naß bei Neukomm’s Melodien.
So ehrt die treue Vaterstadt des Tonnenbinders Knaben –
Ihn, den die Schergen der Gewalt zu Wien gemordet haben!
Ihn, der sich seinen Lebensweg, den steilen und den rauhen,
Auf bis zu Frankfurts Parlament mit starker Hand gehauen!“

Hans Blum.




Ein schwedischer Volksdichter und sein Fest.

Nicht daheim beim Lampenlichte darf man die Verse eines echten Volksdichters lesen, wenn man ihn ganz verstehen und würdigen will. In seine Heimath muß man wandern, die Luft athmen, die er in sich gesogen, über den Boden hinschreiten, auf dem er gewandelt, unter dem Volke leben, zu dessen eigenthümlichem, verdichtetem poetischem Abbilde er geworden; dann weiß man erst, was an einem Volksdichter ist, und warum er so und nicht anders werden mußte. Wer nicht in Ungarn gewesen, nicht über die Pußta gejagt, nicht in der Haideschenke die Zigeuner fiedeln und Cymbal schlagen gehört, wen nicht der Blitz aus den Feueraugen der Ungarinnen gestreift, der wird Petöfi, dem volksthümlichsten Dichter Ungarns, nicht gerecht werden können.

Und das gilt auch von dem Anakreon Schwedens, C. M. Bellman, diesem Liebling der Natur, seines Volkes und seines Königs, wie ihn ein Zeitgenosse genannt. – Man darf heute diesen Namen nur aussprechen, und die Augen jedes Schweden erglühen. „Einen der außerordentlichsten Menschen, die jemals gelebt haben,“ nennt unser alter Arndt den schwedischen Dichter. Seine Naivetät und Frische, seine Ursprünglichkeit und Naturtreue stellt dieser mit den Meisterschöpfungen eines Rembrandt und Teniers in eine Reihe; in ihm sieht man die echte schwedische Natur, den echten schwedischen Geist.

Mir war Bellman schon seit langer Zeit bekannt; ich las seine Dichtungen, doch ohne von ihnen weder ergriffen noch erwärmt zu werden. Er schien mir einer jener überschätzten Poeten zu sein, an welche insbesondere kleinere Nationen so gern ihre übertriebene Bewunderung heften. Selbst das Lob eines Kellgren und Tegnér konnten mich nicht umstimmen.

Dennoch nahm ich seine Episteln und Lieder auf meine schwedische Reise mit, ebenso wie ich Petöfi auf meiner Karpathenfahrt im Reisesack hatte. Und als ich hinfuhr durch das prächtige nordische Land, vorüber an mäßigen, stahlgrauen, düstern Hügelketten, entlang der smaragdenen Seen, die allerorts ausgegossen in unerschöpflicher Fülle, durch die rauschenden Wälder, die so seltsam, so zauberhaft zu flüstern verstehen; als ich einige Tage mich in Stockholm herumgetrieben unter den liebenswürdigen, stillvergnügten, lebensfrohen und doch so eigenthümlich schweigsamen Menschen, als ich den Mälar durchschifft, den dunkelgrünen Salzsee, und dieses nordische Constantinopel mit seinen Brücken, seinen Dämmen, seinen Palästen, seinen Felsengebirgen und seinem aus allen Ecken und Winkeln hervorschießenden nordischen Grün mir immer vertrauter wurde; als ich jetzt die Lieder Bellman’s nicht nur selbst las, sondern auch von Andern singen hörte, nach den Melodien, wie er sie selbst für seine Dichtungen geschaffen, in welchen sich Wort und Ton decken, wie die rechte Hand, die man auf die linke legt, – da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wie ein Blitz flammte mir das Verständniß dieses Poeten auf, und ich stimmte freudig in den allgemeinen Ausruf ein, den ich rings um mich hörte: Ein Dichter! Ein echter Dichter!

Bellman ist den 24. Februar 1741 in Stockholm geboren. Sein Vater war Secretär in der Schloßkanzlei, später Landrichter. Die Mutter zeichnet der Dichter selbst: „Schön wie der Tag, unendlich gut, reizend in der Toilette, freundlich gegen alle Menschen, fein im Umgamge und begabt mit einer vortrefflichen Stimme.“

Unter zahlreichen Geschwistern wuchs er empor, fleißig, lernbegierig, phantasievoll und von munterem Sinne; schon als Kind sprach er, wie im Fieber-Paroxysmus, immer Verse vor sich hin, hingegen machten ihm die exacten Wissenschaften viele Schwierigkeiten. Später kam er nach Upsala auf die hohe Schule, wo er seine Rechtsstudien mit Erfolg vollendete. Von seinem Großvater, Magister Hernonius, einem Prediger, erbte er eine dem Religiösen und Mystischen sich zuneigende Richtung. Wie der Sonne, ehe sie in ihrem vollsten Glanze hervortritt, die graue Morgendämmerung vorangeht, so dem Bellman’schen Genius mystisch-religiöse Poesien, aber bald enthüllt er sich als das, was er eigentlich war und werden sollte, als der Dichter des heitern Lebensgenusses, der Freundschaft, der Liebe und der seligen Trunkenheit und Weltvergessenheit. Mit achtzehn Jahren lernte er zum ersten Male den süßen Taumel kennen, den die Gaben des Gottes Bacchus gewähren:

„Ich kam heim so roth und schön
Eines Nachmittags um Viere;
Meine Schwestern, mich zu seh’n,
Traten lächelnd vor die Thüre;
Nachbarn, Nachbarinnen gingen
Grad’ zur Kirche, zum Gebete,
Während aus des Pontaks[1] Schwingen
Muttern ich entgegentrete.

‚Mein Carl Michel,‘ sagte sie,
‚Wo, mein Kind, bist Du gewesen?‘
„Mütterchen, das können Sie
Ja auf meinem Antlitz lesen.“
‚Ja so, ja so, armer Tropf,
Setz Dich her zu meinen Füßen,
Leg auf meine Knie’ den Kopf:
Wer gesündigt hat, muß büßen.‘“

Er vergötterte seine Mutter, und diese Verehrung übertrug er später auf alle Frauen. Nebst den Gaben des Bacchus und der Schönheit der Frauen war es die Anmuth der nordischen Natur, waren es die eigenthümlichen Reize seiner Heimathstadt, die sein für den leisesten Eindruck empfängliches, wollüstig weiches, elastisches Gemüth zu seinen schönsten Liedern begeisterten. – Diese Lieder, bestimmt, gesellig im Freundeskreise genossen zu werden, sind sämmtlich Improvisationen. Inmitten fröhlicher Genossen, bei Trinkgelagen, oder wenn schöne Erinnerungen in ihm aufstiegen, kam es wie Verzückung über ihn. Er nahm seine Laute zur Hand, jene berühmt gewordene Laute, welche heute im Nationalmuseum in Stockholm unter den geliebtesten Andenken des schwedischen Volkes seine Stelle gefunden, und schloß die Augen; eine längere Pause entstand; nach und nach färbten sich mit Fieberröthe seine blassen Wangen; er präludirt, und nun beginnt er, Wort und Musik innig verschwisternd, jene Lieder, das Entzücken seiner damaligen glücklichen Zuhörer, heute die Kleinodien der schwedischen Literatur. So improvisirte er halbe Nächte vor seinen Freunden.

Productiv, wie jedes echte Talent, sang er an solchen Abenden unermüdet, bis er, gleich einer Pythia, wenn der Taumel der Begeisterung entschwunden, ermattet niedersank. Viele dieser seiner Dichtungen, wie sie als Eingebungen des Augenblickes entstanden, sind auch mit der Lust und Freude verklungen, die sie geboren; er selbst sammelte nichts, doch die Freunde behielten Text und Melodie im Gedächtniß, und schon bei seinen Lebzeiten kamen sie in zwei Bänden heraus.

Die Poesie, wie Goethe meint, zu commandiren, diese Gabe fehlte ihm gänzlich; sein Dichten war ein willenloses; nie war die Einsamkeit, immer die fröhlich ihn stimmende Umgebung

  1. Bekannter Rothwein.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_608.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2022)