Seite:Die Gartenlaube (1878) 586.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

fuhr darauf mit dem Tuche über den Vollbart, wischte über die braunen Augen und stieß dann plötzlich einen erleichternden Seufzer aus.

„In der Freiheit also!“ sagte er mit wohlklingender Stimme und seine Augen leuchteten dabei auf; „es ist mir, als bliebe aller Zwang dort zurück in der Tiefe, als habe ich alle Sorgen abgeschüttelt. Eine neue Welt, in die ich trete, frisch und fröhlich, unbesorgt, wie der wandernde Bursche, der keine Ahnung hat, unter welches gastliche Dach er zur Nacht sein Haupt betten wird.“

Ein heller Schein brach durch die Nebelschicht. „Guten Morgen, Frau Sonne! Heißest Du mich hier auf der Berghöhe willkommen?“ lachte er und schwenkte seinen Hut. „Ah, das thut wohl. Nun wollen wir den Vater Brocken suchen, wenn er anders nicht so tückisch ist, noch in der Neppelkappe zu stecken. Dort oben bei der Lichtung muß der Aussichtspunkt sein, von dem das ‚Weiße Roß‘ geredet.“

Er erstieg vollends die Höhe, schritt an dem Weghause vorüber und blickte forschend um sich. Aber nichts zeigte sich seinen Blicken nach der Tiefe zu, als die wallenden und fallenden Nebel.

„Schon recht,“ sprach er wieder halblaut vor sich hin; „zurück, was grau und düster ist! Ich will denken, daß ich hellen Tagen, ruhigen Stunden hier auf der Berghöhe entgegen gehe.“

„Glück auf!“ klang es neben ihm, und zur Seite schauend, gewahrte er eine schlanke weibliche Gestalt.

Dieser unvermuthete Gruß war ihm in dem Augenblicke wie eine Verheißung für seine eben lautgewordenen Wünsche.

„Glück?“ sagte er, ohne den Gruß, wie es üblich, zu wiederholen, „sage mir, Kind, werde ich das Glück noch jemals finden?“

Zwei tiefblaue Augen sahen ihn so groß und staunend an, daß er fast verwirrt eine Secunde seine Blicke senkte; dann setzte er, sich erinnernd, daß seine Frage etwas seltsam geklungen haben mochte, wie erläuternd hinzu:

„Ich bin fremd und suche von hier den Brocken zu entdecken.“

„Der steckt im Nebel,“ erwiderte das Mädchen und deutete mit ausgestreckter Hand nach der Richtung, in welcher der höchste Berg des Harzes liegt.

Der Fremde musterte im Fluge ihre Erscheinung; dieselbe hatte etwas Eigenartiges, das ihn interressirte. Unter dem dreieckigen schwarzen Kopftuch, das im Nacken geknüpft war, schimmerte nur eine Strähne rabenschwarzen glänzenden Haares hervor; die Gesichtsfarbe des Mädchens war blendend weiß und wurde durch schwarze Augenbrauen und Wimpern gehoben; die feine Nase und die Linien des Mundes deuteten auf Eigensinn und Stolz. Die Gestalt war schlank und geschmeidig.

„Ich kann nicht irren hier auf dem Wege nach Clausthal?“ fragte der Graue weiter.

„Nein, wenn Sie der Landstraße nachgehen; überdies finden Sie Wegweiser und dort“ – sie zeigte rückwärts – „kommt die Post; der brauchen Sie nur zu folgen.“

Eben bog der schwere Wagen um die Ecke; zwei Köpfe schauten aus dem Fenster, fuhren zurück, und dann erschienen die vier lachenden Gesichter der Insassen und blickten belustigt auf den ehemaligen Reisegefährten hinunter. Jetzt gewahrten sie auch das Mädchen, und sich noch weiter hinausbiegend, warfen sie demselben unter Scherzreden unzählige Kußhände zu.

„Uebermuth – -!“ begann der Graue und stockte dann, als er sah, daß dunkle Gluth in die Wangen des Mädchens stieg und daß sie sich mit einer Miene der Verachtung umdrehte, ihr Tuch fester um das Gesicht zog und sich auf’s Neue zum Gehen anschickte.

„Sind Sie erzürnt über die jungen Burschen?“

„Nein.“

„Sie wollen nach der Stadt zurück, vermuthe ich; darf ich den Weg mit Ihnen machen?“

„Ich bin gewohnt allein zu gehen.“ Damit hatte sie sich blitzschnell gedreht und war in der Waldung zur Linken verschwunden. Der Fremde starrte auf die hinter ihr zusammenschlagenden Fichtenzweige, kniff die Lippen fest zusammen, lachte dann und sagte im Weitergehen:

„Das erste Abenteuer! Ein hübsches Mädchen übrigens; ich bin doch neugierig, ob sie den Durchschnitt der hiesigen Schönen darstellt – das spräche für den Menschenschlag. Eigensinn und Eigenwille gehört mit zu den Charakterzügen des Harzers, das ist bekannt. Sie sollen Köpfe haben, so hart wie das Erz ihrer Berge c nun, das war ja eben eine kleine Probe. Wie gut sie dieser Stolz kleidete und wie sie kurz angebunden war … haha,“ unterbrach er sich dann selber, „Heine und Goethe wirbeln mir angesichts des Brockens im Kopfe herum – ganz natürlich! Dort sind die ersten Häuser; soll mich wundern, welche von den ‚frommen Hütten‘ mir ein Obdach gewähren wird!“

Aber er hatte sich getäuscht; er mußte, obwohl er das Bergstädtchen da auf der kahlen Hochebene mit seiner nur mäßighohen, kupfergedeckten Kirche fast greifbar vor sich liegen sah, noch ziemlich weit gehen, ehe er die ersten Häuser erreicht hatte. Dieselben machten einen düsteren Eindruck; sie waren zum Theil mit Holzschindeln an Dach, Façade und Seitenwänden bekleidet, während andere blauschwarzen Schiefer wie eine Art Schuppenpanzer trugen; sämmtlich niedrig, lagen sie verstreut hier und dort an den bergauf- und bergabführenden Straßen. Erst dem Marktplatze zu, der groß und geräumig sich um die Kirche ausdehnt, gewannen die Straßen etwas mehr an Regelmäßigkeit. Glockengeläute ertönte vom Thurm; es bezeichnete alter Sitte gemäß eine neue Einfahrt der Bergleute in den Schooß der Erde.

Langsam schritt der Ankömmling eine steile Straße hinab, ohne Zweck und Ziel sich dem Zufall überlassend.

„Glück auf! Glück auf!“ tönte ihm der Gruß zweier schwarzgekleideter Bergmannsgestalten entgegen, die, von ihrem schweren Tagewerke zurückkehrend, dem heimischen Herde zuschritten.

„Glück auf!“ wiederholte er ihren Gruß und sah den bleichen Männern nach, deren feuchte und schmutzige Kleidung von ihrem unterirdischen Aufenthalt redete.

An jedem der kleinen schwarzen Häuser schaute er hinauf, forschend, als suche er altbekannte Gesichter und Gestalten hinter den kleinen blinkenden Fensterscheiben. So kam er hinab bis zum andern Ende des Ortes, wo die Häuser wiederum nur einzeln standen; winzige Gärten schlossen sich an ihre Rückseite. Als er das letzte erreicht hatte, blieb er stehen und lehnte sich gegen einen verkümmerten Walnußbaum. Es war still ringsum, nur aus der Ferne tönte von dem einen Grubenwerke herüber der Klang des gläsernen Glöckchens, dessen unaufhörliches Bimbim anzeigt, daß an dem Gewerke Alles in Ordnung ist.

Vor dem kleinen Hause stand ein lederner Lehnstuhl, weitarmig und weitbeinig, auf dem Fußschemel saß ein weißes Kätzchen und sonnte sich. An den drei Fenstern zu ebener Erde und den vier kleinen im oberen Stock sah man sorglich gepflegte Blumen; das machte einen freundlichen Eindruck neben dem dunklen Schieferblau der Bekleidung.

„Ob das eine Stätte des Friedens ist?“ flüsterte der Fremde vor sich hin. „Es ist ein Haus, in welchem Heine’s ‚Harzidylle‘ gespielt haben könnte.“

Schlürfende Schritte wurden auf dem Hausflur hörbar; dann schob sich die Thür etwas weiter auf und eine alte, gebückte Frau erschien in derselben. Sie stützte sich eine Secunde gegen den Pfosten und erreichte dann den Lehnstuhl, in welchem sie sich niederließ. Die Katze drängte sich schmeichelnd an ihre Füße, und sie strich ihr liebkosend über de gebogenen Rücken. Dann nestelte sie langsam aus dem seitwärts stehenden Korbe ein grobwollenes Strickzeug schob die Hornbrille auf die Nase und begann eine Stricknadel nach der anderen durch die knöchenen Finger gleiten zu lassen.

Lange Zeit gewahrte sie den Fremden nicht, als aber die Katze nach dem Garn haschte und sie aufsehen mußte, fiel ihr staunender Blick auf die graue Gestalt. Eilig schob sie die großglasige Brille hin und her, als könnte sie sich dadurch über den ungewohnten Zuschauer orientiren. Der Fremde kam ihrer Neugier zu Hülfe, indem er zu ihr herantrat und ihr freundlich „Guten Morgen!“ bot.

„Ja, ein guter Morgen,“ erwiderte sie mit einem Lächeln, das ihre welken Züge wunderlich verjüngt erscheinen ließ, „so ein echter Gottesmorgen, wo man in der Sonne sitzen kann; das thut gut für meinen alten Rücken. Wenn man siebenundsiebenzig Jahre auf der Welt ist, Herr, und noch rüstig blieb und gesund, ob auch die Füße nicht mehr ganz mitwollen, so dankt man Dem dort oben für Alles, was man noch genießen kann. Ihr kennt das nicht; Ihr seid ein Kind gegen mich.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_586.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)