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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gratiana.
Eine Harzgeschichte von E. Vely.


„Auf die Berge will ich steigen,
Wo die dunkeln Tannen ragen.
Bäche rauschen, Vögel singen
Und die stolzen Wolken jagen.“
     Heine

Der schwerfällige Postwagen hielt mit einem ächzenden Ruck vor dem Wirthshause zum „Weißen Roß“ still; der Postillon hatte noch nicht einen Fuß auf die Erde gesetzt, als schon sämmtliche Passagiere drunten standen. Vier frische Jünglingsgestalten wandten sich schnell der Wirthshausthür zu; ein Herr, ganz in Grau gekleidet, blieb zweifelnd stehen und blickte zu den Bergen empor und die lange, theilweise nur an einer Seite mit Häusern besetzte Straße entlang. Der Wirth hatte dem „Schwager“ schon auf der Thürschwelle ein Gläschen Branntwein credenzt. „’S ist ein frischer Morgen, und auf den Bergen findet Ihr noch Nebel,“ sagte er.

„Das will ich meinen; es wird schon Herbst,“ nickte der Andere, ehe er das Glas ansetzte und dessen Inhalt auf einmal hinuntergoß.

Der Wirth zeigte mit dem Daumen über die Schulter:

„Akademiker, hm?“

„Ja, so etwas! Lustige Burschen; haben den ganzen Weg her gesungen.“

„Wird dem da nicht angenehm gewesen sein,“ lachte der Besitzer des „Weißen Rosses“ und zeigte auf den Grauen, „der sieht ja mit einem Gesichte drein, wie zehn Tage Regenwetter.“

„Schwager!“ rief es von drinnen, „ein Glas Bier!“

„Lustige Burschen!“ wiederholte der Gerufene und verschwand schmunzelnd.

Der Wirth blickte nach eine Weile wie musternd auf den Fremden nieder, dann stieg er würdevoll die drei Stufen herab und trat neben ihn.

„Belieben der Herr nicht eine kleine Stärkung?“ fragte er, seine Mütze ziehend.

„Nein!“

„Der Herr wundert sich, wie alle Fremden, über unser langes Dorf – nicht wahr? Ja, das sieht aus, als ob es gar kein Ende nehmen wollte.“

„Es heißt?“ fragte der Graue.

„Lerrbach, mein Herr; es ist der Ort, von welchem man gefaselt, daß alle Leute daselbst einen Kropf hätten. Aber wenn Sie sich überzeugen wollen, so sehen Sie nur –“

Ein Lächeln flog über das Gesicht des Fremden.

„Mich an –, wollen Sie sagen, Herr Wirth!“

„Ich bin ein geborener Lerrbacher,“ entgegnete er, als habe der Andere ihm eine Schmeichelei gesagt. „Aber ich bin auch schon in der Welt herumgekommen; ich war in Braunschweig in meinen jungen Jahren. – Der Herr will nach Clausthal?“

„Ja, und ich möchte am liebsten zu Fuße von hier gehen!“

„Das können der Herr. Sie brauchen nur auf der Landstraße hin zu gehen; kommen schneller, als mit dem Wagen. Es giebt zwar noch Richtwege, aber die findet der Herr nicht, und es ist auch zu feucht; also immer der Straße nach. Und beim Weghause die Aussicht beachten; wenn’s klar ist bis dahin, sehen Sie auch den Brocken.“

„Ich danke,“ sagte der Graue und lüftete seinen Hut.

„Bitte – und wenn Sie zurückkommen, kehren Sie vielleicht im ‚Weißen Roß‘ ein.“

„Ich will mich seiner erinnern; es hat ein vortreffliches Schild. Guten Morgen!“

„Sonderbar!“ murmelte der behäbige Wirth und schaute dem Davonschreitenden nach. „Sonderbarer Passagier, Andres,“ wiederholte er, als der Postillon heraustrat, „Ihr seid ihn jetzt los.“

Andres klappte mit der Peitsche. „Wird denen drinnen noch lieber sein als mir. Aber jetzt wird’s Zeit; ich muß zehn Minuten einholen, die wir hier zu lange gehalten, und das ist schwer bei dem immerwährenden Bergauffahren. Bis zum Nachmittag, Adjes!“

Die flinken, lustigen Passagiere nahmen ihre Plätze ein. Andres stieß in’s Horn, das einen ohrenzerreißenden Mißton gab, und schwerfällig setzte sich der Wagen wieder in Bewegung.

Der Fußgänger war auf der sich schlangengleich um den Berg windenden Landstraße schon weit voran. Bei jeder Biegung erschien das lang hingestreckte Dorf wieder; zur rechten erhob sich eine steile Bergwand, dicht mit dunklen Fichten besetzt; links am Abhange hinunter stand noch Laubholz. Je höher der Wanderer stieg, desto mehr schwand jedoch das frische, freundliche Grün der Buchen; bald dehnten sich zu beiden Seiten die ernsten Tannenwälder aus und verliehen der Landschaft einen strengen Charakter. Er schritt jetzt durch den sinkenden Nebel, der an den Bäumen sich zertheilte, wunderliche Gestalten bildend. Nichts rührte sich; kein Vogel flatterte auf; kein Gethier huschte über den Weg; ein seltsames Gefühl überkam ihn. Er blieb stehen und stützte sich auf seinen Stock. Seine dunkelblonden, etwas krausen Haare hingen feucht an den Schläfen herunter; er strich sie zurück,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_585.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2018)