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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

sich wieder zu entfernen, und erbrach das Siegel, während er flüchtig sagte:

„Entschuldigen Sie mich nur eine Minute lang!“

„Bitte, Excellenz, legen Sie sich meinetwillen keinen Zwang auf!“ entgegnete der Polizeidirector, aber es war ein ganz eigenthümlicher Blick, mit dem sein Auge bei diesen Worten erst das Schreiben und dann den Empfänger streifte.

Raven entfaltete die Depesche, aber er hatte kaum einen Blick auf den Inhalt geworfen, als er zusammenzuckte. Sein Antlitz wurde erdfahl, und seine Rechte zerknitterte krampfhaft das Papier, während die Linke sich ballte. Ein Beben der Wuth oder des Schmerzes erschütterte die ganze mächtige Gestalt, und einen Augenblick schien sie zusammenbrechen zu wollen.

„Sie haben doch nicht unangenehme Nachrichten erhalten?“ fragte der Polizeichef im Tone unbefangener Theilnahme.

Der Freiherr sah auf. Sein Auge heftete sich durchbohrend auf das Gesicht des Mannes, dessen Rolle er seit der Verhaftung Brunnow’s klar durchschaute, und der Ausdruck eines leisen Hohnes in den Zügen seines Gegenüber verrieth ihm, daß der Polizeidirector den Inhalt des Schreibens bereits kannte – das gab ihm Kraft und Besinnung wieder.

„Ueberraschende Nachrichten wenigstens,“ sagte er, die Depesche bei Seite legend. „Doch dafür findet sich noch später Zeit – bitte, fahren Sie fort!“

Der Angeredete zögerte; diese unglaubliche Selbstbeherrschung imponirte ihm doch. Er war Zeuge davon gewesen, wie furchtbar jener Schlag getroffen hatte, aber es wurde ihm nicht gegönnt, die Wunde bluten zu sehen. Der Getroffene drückte die Hand darauf und stand fest wie zuvor. War denn der Trotz und Hochmuth dieses Raven nie zu brechen?

„Die Hauptsachen haben wir ja bereits besprochen,“ meinte der Polizeidirector mit einer gewissen Verlegenheit. „Wenn Sie anderweitig in Anspruch genommen sind – ich möchte nicht stören.“

„Ich bitte Sie fortzufahren,“ die Stimme des Freiherrn war tonlos, aber fest.

Der also Aufgeforderte sah, daß jede Schonung hier als Beleidigung empfunden werde; er sprach also weiter. Die Bemerkungen, die Raven am Schlusse hinwarf, waren vollkommen zutreffend, aber sie klangen rein mechanisch, und ebenso mechanisch erhob er sich, als der Polizeidirector aufstand, um zu gehen.

„Sonst haben Excellenz keine weiteren Anordnungen zu treffen?“

„Nein,“ entgegnete der Freiherr kalt. „Ich kann Ihnen nur den Rath geben, Ihren Instructionen so pünktlich wie bisher nachzukommen. Dann wird Ihnen die Anerkennung sicher nicht fehlen.“

Der Polizeidirector fand für gut, den Erstaunten zu spielen. „Ich verstehe Sie nicht, Excellenz. Welche Instructionen meinen Sie?“

„Die, welche Sie aus der Residenz mit hierher brachten als Ihnen mit dem Posten in R. zugleich eine – Ueberwachung anvertraut wurde.“

„Die Ueberwachung der Stadt meinen Sie? Ich glaube in dieser Hinsicht meine Schuldigkeit gethan zu haben. Uebrigens sind die Unruhen ja jetzt vorüber, und Alles ist zu Ende.“

„Ja wohl,“ erwiderte Raven verächtlich, „und auch wir sind zu Ende mit einander. Sie begreifen das wohl.“

Er kehrte ihm, ohne ein Wort weiter zu verlieren, den Rücken und trat an das Fenster. Das war eine offenbare Beleidigung, aber der Polizeidirector wollte jetzt nicht beleidigt scheinen; das konnte zu unangenehmen Verwickelungen führen. Er verabschiedete sich daher mit einem Gruße, der nicht erwidert wurde, und verließ das Zimmer.

Draußen athmete er erleichtert auf. Es war ihm peinlich, daß der Freiherr ihn so vollständig durchschaute, um so peinlicher, als er keine Veranlassung hatte, dessen persönlicher Feind zu sein. Er hatte ja nur im „höheren Auftrage“ gehandelt, als er der Vergangenheit Raven’s nachspürte und sich des Schlüssels zu dieser Vergangenheit, des Doctor Brunnow, bemächtigte, um das endlich aufgefundene Geheimniß der Welt preiszugeben. Es wurde ihm nicht eben allzu schwer, sich mit einigen Sophismen über die zweideutige Rolle zu trösten, die er von Anfang an dem Freiherrn gegenüber gespielt hatte, und jetzt hatte diese Rolle ja auch ihr Ende erreicht.

Raven war allein geblieben. Er stand am Schreibtische und durchlas noch einmal das verhängnißvolle Schreiben – seine Entlassung. Sie war ihm in der schroffsten, beleidigendsten Form ertheilt worden. Man forderte keine Erklärung, keine Vertheidigung des so schwer angegriffenen Mannes; man ließ ihm überhaupt nicht Zeit, sich zu erklären oder zu vertheidigen. Er wurde verurtheilt, ohne auch nur gehört worden zu sein. Nicht einmal den gewöhnlichen Ausweg ließ man ihm offen, seine Entlassung zu nehmen; sie wurde ihm gegeben, in einer Form gegeben, die nur für Schuldige da war und die Welt auch nicht einen Augenblick in Zweifel darüber ließ, daß die Regierung sich auf Seiten der Anklage stellte und ihren bisherigen Vertreter für überführt erachtete.

Der Freiherr schleuderte die Depesche von sich und ging in stummem Kampfe im Zimmer auf und nieder. Seine Lippen zuckten; seine Augen flammten.

Auf einmal blieb er, wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, stehen und trat dann langsam zu einem Seitentischchen, auf dem ein Kasten von nur geringer Größe stand. Ein Druck an der Feder ließ den Deckel aufspringen und zeigte ein Paar vorzüglich gearbeitete Pistolen. Der Freiherr nahm deren eine heraus und untersuchte sorgfältig, ob sie sich noch in vollkommener Ordnung befinde. Einige Minuten lang hielt er die Waffe in der Hand und blickte, in düsteres Nachsinnen verloren, darauf nieder; dann legte er sie wieder an ihren Platz zurück und richtete sich mit einer raschen Bewegung empor.

„Nein!“ sagte er halblaut. „Das würde für Feigheit, für ein Eingeständniß der Schuld gelten. Es wird wohl noch einen anderen Ausweg geben – den Triumph wenigstens sollen sie nicht haben.“

Er warf den Deckel des Kastens zu und wandte sich ab, und wieder begann die stumme ruhelose Wanderung, das finstere Brüten über irgend einem Entschlusse. Der Ausweg mußte gefunden werden. – –

Inzwischen war Doctor Brunnow in der Wohuung seines Sohnes mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt, die auf morgen festgesetzt war. Max hatte ihn verlassen, um die gestern begonnene „Belagerung“ fortzusetzen Er befand sich wieder bei dem Hofrath Moser und führte seinem „lieben Schwiegervater“ noch ausführlicher als gestern zu Gemüthe, welchen ausgezeichneten und ganz unübertrefflichen Schwiegersohn er in dem Doctor Max Brunnow erhalten werde. Gegen die Beharrlichkeit dieses Freiers half kein Einschließen und kein Verriegeln.

Der Vater ließ ihn gewähren; er kannte Max und wußte, daß dieser schließlich seinen Willen durchsetzen werde. Er selbst wäre am liebsten schon heute abgereist, wenn ihn das dem Sohne gegebene Versprechen nicht bis morgen gehalten hätte. Ihm brannte wirklich der Boden unter den Füßen, und alle die Antheilbezeigungen und Glückwünsche wegen seiner Befreiung schienen ihm den Aufenthalt nur noch mehr zu verleiden.

Brunnow hatte soeben einen Brief beendigt, der seine bevorstehende Ankunft zu Hause anzeigen sollte, und stand im Begriffe, ihn der Aufwärterin zu übergeben, als diese ungerufen, aber in größter Eile eintrat und ganz athemlos meldete: „Herr Doctor – Seine Excellenz!“

„Wer?“ fragte Brunnow zerstreut, indem er das Couvert schloß.

„Seine Excellenz, der Herr Gouverneur!“

Brunnow wendete sich rasch um; sein Blick fiel auf den Freiherrn, der bereits eingetreten war und im Nebenzimmer stand. Er näherte sich jetzt und sagte in völlig fremdem Tone:

„Ich wünsche Sie auf einige Minuten zu sprechen, Herr Doctor.“

„Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Excellenz,“ versetzte Brunnow, den das verwunderte Gesicht der Aufwärterin daran mahnte, daß er seine Ueberraschung nicht zeigen dürfe. Er übergab der Frau rasch den Brief und sandte sie damit fort.

Als sie ohne Zeugen waren, ließ Raven die angenommene Fremdheit fallen.

„Mein Kommen befremdet Dich?“ sagte er. „Bist Du allein?“

„Ja, mein Sohn ist ausgegangen.“

„Das ist mir lieb, denn unsere Unterredung verträgt keinen Zeugen. Du hast wohl die Güte, die Thür abzuschließen, damit wir ungestört bleiben.“

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