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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Geh’ mir aus dem Weg, Du garstiger Ding,“ sagte sie mit abwehrender Bewegung; „ich will nichts wissen von Dir – ich hätt’ mir wohl selber geholfen. Was ist das für eine Art, daß Du mir nachschleichst, und wie schauest Du mich an bei jeder Gelegenheit, als wenn Du mich erstechen wolltest! – Und wie ist denn das?“ setzte sie bedächtiger hinzu: „Du kannst ja auf einmal viel besser reden, als wie heute Nachmittag? – Und Du bist auch gar nimmer so krumm? Geh’ mir aus dem Weg, sag’ ich noch einmal, Du kommst mir verdächtig vor. …“

Der Krüppel unterbrach sie durch dasselbe unverständliche Lallen, das sie früher von ihm gehört; er knickte wieder zusammen und stieß nur mühsam einzelne Worte heraus. „Stummerl brav – Stummerl nit bös – Dich begleiten – er könnt’ nochmal kommen –“

„Der kommt wohl sobald nicht wieder,“ lachte Gertel, sich zum Gehen anschickend. Nach den ersten Schritten hielt sie jedoch an und kehrte zu dem Krüppel zurück. „Es ist nicht recht von mir, daß ich Dich so angefahren hab’,“ sagte sie, sich selbst begütigend, in freundlichem Tone. „Du meinst es ja gut mit mir und bist ja doch ein armes Leut. – Ich dank Dir also recht schön, daß Du mir so beigestanden bist, und wenn Dich der Weg an meiner Heimath vorüberführt, dann kehr’ ein! Ich will Dir was schenken. Deine Begleitung brauch’ ich aber nicht; auf dem Katzensprung geschieht mir wohl nichts mehr. – Und dann,“ setzte sie, aufathmend und wie nach dem überstandenen Schrecken in den gewohnten Frohmuth übergehend, hinzu, „dann wär’s doch nicht recht rathsam, mich von Dir heimführen zu lassen; die Leut’ sind einmal gar zu bös; ich könnt’ leicht in’s Gerede kommen mit Dir.“

Lachend eilte sie hinweg und gewahrte es in der Eile nicht, daß der Krüppel ihr kurze Zeit nachsah, dann aber seitwärts auf einem Nebenweg über Flur und Hecken ihr wie ein Schatten folgte, – so schnell, ja schneller, als nach seiner körperlichen Beschaffenheit möglich schien. –

Der Entflohene hatte seinen Weg nur so weit verfolgt, bis es möglich war, aus einem Versteck zu übersehen, was in der Gegend vorging. Nach längerem Umherspähen eilte er auf dem Pfade dahin, der ihn am schnellsten zu seiner Wohnung führte.

Unweit des Gestades lag eine Hütte, die schon längst bis auf die Spur verschwunden ist, ärmlichen und selbst bedenklichen Aussehens und häufig trotz der kleinen Anhöhe, auf der sie stand, bei hohem Wasserstand gleich einer Insel, vom übrigen Lande abgeschnitten und unzugänglich. Die Hütte war vor Jahren aus Anlaß eines Wasserbaues errichtet worden, als aber der Bau beendet war, stehen geblieben, weil ein Zimmerer sich darin eingerichtet hatte, ein wackerer Mann, dem man es seiner Tüchtigkeit wegen wohlwollend nachsah, daß er darin wohnen blieb, die Hütte allmählich als sein Eigenthum betrachtete und mit Geschick zu einer ständigen Wohnung einrichtete. Man ließ es sogar geschehen, daß er ein Weib hineinführte, und übertrug ihm nur die Verpflichtung gewisser Uferarbeiten, sowie der Aufsicht in den Inn-Auen.

Einige Jahre ging das ganz gut. Es ergab sich keinerlei Anstand; dann aber kam das Unglück über den erst unscheinbaren, allmählich behäbiger gewordenen Bau. Der wackere Zimmergeselle war auch ein der Schifffahrt wohl kundiger Mann. Die Schifffahrt auf dem Inn aber war damals noch höchst lebhaft, wenn sie jetzt auch fast bis auf die Erinnerung verschwunden ist, das gleiche Loos erlebend, wie die Steinböcke, die Spitze und die schönen kleidsamen Trachten des Volkes. Damals ging jeden Tag eine Reihe großer Lastschiffe auf dem Innstrome, in der Raufahrt (das heißt dem Strome nach) bis in die Donau, oder aufwärts in der Gegenfahrt mit Pferden, deren oft sieben nach einander angespannt waren und an einem langen Seile die Schiffe stromaufwärts schleppten. Der Mann wurde oft gerufen, auszuhelfen, wenn es galt, einen tüchtigen Vorderstangenreiter zu finden, dessen Aufgabe es war, den Hufschlag (so hieß der Saumweg) am Ufer entlang einzuhalten und dafür zu sorgen, daß das Seil durch nichts gehindert werde. Es gehörte zu diesem Geschäfte so viel Geschicklichkeit wie Muth, denn nicht selten kam es vor, daß das Seil riß oder durch irgend ein Hinderniß in gefährliches Schwanken gerieth. In einem solchen Falle geschah es dann nur zu oft, daß Roß und Mann in den Strom geschleudert wurden.

Auch dem wackeren Zimmermann war dieses Loos beschieden. Als er einmal wieder abgestiegen, um einen Aufenthalt zu beseitigen, faßte ihn unvermuthet das Seil und schnellte ihn mit Riesenwucht weit in den Strom hinab, sodaß ihn derselbe trotz der zugeworfenen Stricke und Haken erst weit unten, aber ganz in der Nähe seines Heims, als Leiche an’s Ufer warf. Man brachte ihn der halbverzweifelnden Wittwe ins Haus und es mochte ihr ein schlimmer Trost sein, als ihr die Schiffsleute versicherten, daß er den Ehrentod im Berufe gestorben sei: das könne Jedem geschehen, sagten sie, „von dem Seile geschnackelt zu werden, aber er sei untergegangen wie ein Mann und habe nicht einmal nur Hülfe geschrieen …“ Mit ihm war das Glück und auch der kleine Wohlstand aus der Hütte verschwunden. Die Wittwe mußte nun darauf bedacht sein, selbst durch kleinen Erwerb das dürftigste Brod für sich und Gori, der damals kaum aus den Kinderjahren getreten, zu schaffen und um diesem Erwerbe nachgehen zu können, mußte sie fast immerwährend von Hause fort sein und den Knaben sich selbst überlassen.

Er kam natürlich selten zur Schule, aber er verwilderte nicht: der tüchtige Kern seines Vaters schien in ihm zu stecken. Er hatte nur ein trotziges und scheues Wesen, vermöge dessen er sich von Allen, auch seinen Altersgenossen, zurückzog und jede Annäherung zurückwies, bis man ihm allseitig den Willen that und ihn sich selbst überließ. Das Einzige, woran er mit einer Art Leidenschaft hing, war seine Mutter, und als mit der Kraft auch die Möglichkeit des Selbstverdienens gekommen, war es seine Lust und sein einziger Stolz, für sie zu sorgen und durch Arbeit ihren Zustand erträglich zu machen.

Das Alles sollte sich eines Tages ändern.

Es war der Tag, an dem er ein hübsches Mädchen kennen lernte, an das er sich, ungestüm wie er war, sogleich mit ganzer Gemüthskraft hing. Das Andenken des Vaters und auch die Mutter waren jetzt vergessen; er arbeitete wohl noch, ja angestrengter als bisher, aber nicht mehr für diese, sondern für das Mädchen, um ihr schenken und selbst so vor ihr erscheinen zu können, daß er mit den anderen Bewerbern, deren kein Mangel war, in die Reihe treten konnte. Wie durch einen Blitz, welcher gezündet hat, war ihm mit Einem Schlage der Unterschied zwischen seiner Stellung und jener der anderen, reicheren Bursche klar geworden, und der Trieb nach Besitz und Reichthum loderte grell in ihm auf. Der naheliegende Gewinn durch Schwärzerei trat verführerisch vor seine Seele. Er sah das Beispiel an Anderen, von denen man wußte, daß sie heimlich dasselbe Geschäft betrieben und sich dabei in Reichthum und Wohlleben befanden, und er folgte dem Beispiel. Der Erfolg blieb nicht aus. Er erwarb bald einen kleinen Schatz und sah mit zitternder Begierde den Tag immer näher kommen, an welchem er auch den Schatz seines Herzens in die mit Sorgfalt ausgebesserte und geschmückte Hütte als Frau einzuführen vermögen würde.

Die Mutter legte ihm nichts in den Weg. Seit dem Tode ihres Mannes war sie immer stiller und zuletzt tiefsinnig geworden und ließ Alles um sich her gleichgültig und theilnahmslos geschehen. Auch die Liebe des Sohnes schien sie nicht tiefer zu berühren, jetzt aber, da sich dieser von ihr abgewendet, vermißte sie dessen Zuneigung schwer und trachtete um so eifersüchtiger nach Zeichen derselben, als sie früher sich gleichgültig dagegen erwiesen hatte. Diese Gemüthsverstimmung war immer mehr gewachsen und zuletzt in einen an Stumpfsinn grenzenden Zustand übergegangen.

Da griff ein finsteres Schicksal zum zweiten Male in Gori’s Leben. Es kamen verhängnißvolle Tage, mit welchen die Nachricht durch die Dörfer lief, das Mädchen, das in wenig Wochen seine Frau werden sollte, sei Nachts von einem der vielen geländerlosen Stege, die in der Gegend über die Altwasser des Inn führen, hinunter gestürzt und als Leiche gefunden worden – nicht weit von der Stelle, an der einst der wackere Stangenreiter gelegen, und in gleichem Zustande, wie er.

Der Vorfall machte in der ganzen Gegend gewaltiges Aufsehen, und mit dem Gerücht flog der Argwohn durch das Land, als ob es bei diesem plötzlichen und unerwarteten Todesfall nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen sei. Aber mit dem Argwohn machten auch alle die Erwägungen die Runde, welche die Grundlosigkeit des Verdachtes unwiderleglich darthaten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_491.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)