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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

mit mir hat? Wenn er mir allein begegnen thät’, dem thät’ ich ausweichen.“

Die Auszeichnung, welche Gertl allenthalben errang, veranlaßte den Wirth auch, ein Auge zuzudrücken, als sie von seinen vornehmsten Gästen in ein Gespräch verwickelt wurde – war es doch auch ihm, dem Hause wie dem Dorfe eine Ehre, daß sie das Mädchen mit solcher Freundlichkeit behandelten. Die Fremden luden sie ein, den Rest des Abends im Gespräch bei ihnen zuzubringen, aber sie weigerte sich so entschieden, daß sie bald einsehen mußten, daß eine Erfüllung ihres Wunsches von dem willensstarken Mädchen nicht zu hoffen war.

„Ich will meine Schuldigkeit thun,“ sagte Gertl, „und aushelfen, wie ich es dem Wirth versprochen hab’, damit er mich nicht umsonst zahlt! Dann geh’ ich heim; es ist ja nicht weit; in einer halbe Stunde bin ich dort, und beim Vollmond ist ganz gut gehen. Ich hab’ es meiner Mutter versprochen, heim zu kommen; morgen in aller Früh muß ich wieder bei der Arbeit sein. Oben hinter dem verfallenen Schloß, wo das Bauerngütl des italienischen Grafen liegt, dem der Falkenstein gehört, muß das Grummet am Schloßberg und an den Hängen gemäht werden. Die Mutter ist gar scharf; ich bekäm’ drei Tage kein gutes Gesicht, wenn ich nicht zur rechten Zeit da wäre.“

Immer tiefer sank der Abend in’s Thal, und kühle Dämmerung legte sich über den bald leer gewordenen Garten; das Rollen der abfahrenden Wagen verstummte allmählich, und auch die Stimmen der Fußgänger verklangen in immer wachsender Entfernung. Als der Mond durch die Krone des Nußbaumes schien, brachen auch die Fremden, von den Ereignissen des Tages ermüdet, auf, um ihr Nachtlager zu suchen. Die Thür des Wirthshauses schlug krachend zu, und über dem ganzen, erst kurz vorher noch so lebensvollen Dorfe breitete sich die Stille der Nacht.

Gertl hatte sich unbemerkt auf den Weg gemacht und schritt auf der ebenfalls schon menschenleeren Straße dahin, um in einiger Entfernung vom Orte einen Wiesenpfad einzuschlagen, der um eine bedeutende Strecke näher an ihre Heimath führte.

Heiliges Schweigen war um sie her.

Nur hie und da war der Schrei eines Käuzleins zu vernehmen, das von den Bergen her seinen Nachtflug begann, oder aus den fernen Tümpeln der Inn-Auen herauf schmetterte der Ruf eines Wasservogels. Rings war kein menschliches Wesen, kein Laut eines solchen zu gewahren. Die einzige Spur menschlichen Daseins verrieth seitwärts vom Wege ein schwacher, aber klarer Lichtschein, der in ziemlicher Entfernung aus einer Gruppe von Bäumen hervorschimmerte, als erbiete er sich, der einsamen Wanderin zum Wegweiser zu dienen.

Die Herrlichkeit der Nacht verfehlte ihre Wirkung nicht auf das durch die Begebenheiten des Tages vielfach erregte Gemüth des Mädchens. Ihr Schritt ward allmählich langsamer – dann stand sie still und blickte tief aufathmend um sich her in die balsamische Nacht. Das Licht kam von dem einsam gelegenen Forsthause, und wie von ihm geweckt, stieg ihr die Erinnerung an die Tage der Kindheit auf und gemahnte sie, wie oft sie diesen Weg gemacht, als sie noch von ihrer Heimath nach Flintsbach in die Schule ging oder von derselben heimkehrte. Am Wege stand ein niedriges steinernes Feldkreuz, wie sie oft in den Fluren angetroffen werden, ein Zeichen, daß an diesem Orte eine Blutschuld haftete und durch Aufstellen des Kreuzes gesühnt werden wollte. Ohne ermüdet zu sein, setzte sie sich auf den Steinarm des Kreuzes und dachte daran, daß damals gar oft, ja fast immer, wenn sie zur Schule kam, an diesem Kreuz ein hübscher, kraushaariger Bube gesessen hatte, der Sohn des Jagdgehülfen, der ihrer wartete, um sie von und nach der Schule zu geleiten. Eines Morgens dann hatte der Knabe gefehlt und war nicht wiedergekommen, weil er mit den Eltern in eine andere Gegend gezogen war. Ein eigenes Gefühl, fast wie Wehmuth, beschlich ihr die Seele; sie versank immer tiefer in Gedanken, sodaß sie beinahe die Heimkehr vergaß und nicht beachtete, daß der Glockenschlag vom entfernten Kirchthurm schon die zehnte Stunde verkündete. –

Plötzlich fuhr sie erschrocken empor, denn an dem Grasrain hinter dem Kreuz regte sich etwas, und im nächsten Augenblicke stand Gori vor ihr; der volle Strahl des Mondes, der ihm in’s Gesicht fiel, ließ den Hohn, den Grimm und all die Leidenschaft erkennen, die sich in den verzerrten Züge ausdrückte.

„Du da?“ rief sie überrascht, während es sie zugleich wie plötzliche Furcht überrieselte und ihr den Athem benahm. „Was willst Du, daß Du mir um die Zeit in den Weg kommst?“

„Wie kannst so fragen?“ entgegnete er lachend. „Die Antwort kannst Du Dir selber geben. Ich hab’ ja schon heut Nachmittag mit Dir davon geredt. Da waren zu viel Leut’ um uns herum; jetzt sind wir allein; jetzt will ich Dir unter vier Augen nochmal sagen, was ich gesagt hab’. Ich denke mir, Du hast Dir’s vielleicht auch besser überlegt seitdem und hast jetzt vielleicht eine andere Antwort für mich.“

„Du plagst Dich und mich umsonst,“ sagte sie, all ihren Muth zusammenraffend, dennoch aber außer Stande, die Furcht vor dem unheimlichen Burschen ganz zu verbergen. „Ich denk’, ich hab’ Dir die Antwort deutlich genug gesagt, daß Du wissen kannst, woran Du bist.“

„Als wenn man mit Euch Weibsleuten jemals wüßte, woran man ist,“ entgegnete Gori. „Ihr seid alle über einen Leisten geschlagen und spreizt Euch gerade da am meisten, wo Ihr am liebsten Ja sagen möchtet. Drum geht man am sichersten, wenn man nicht lang’ fragt und gleich zulangt. Ihr wißt halt, daß man um eine schwarze Kirsche noch ’mal so hoch steigt, als um eine andere. Jetzt sind wir allein, weit und breit sieht und hört uns kein Mensch – –“

Gertl kam nicht dazu, etwas zu erwidern; schon im nächsten Augenblicke hatte er sie gefaßt und preßte sie mit wilder Leidenschaft an sich. Es war unmöglich, der Kraft des Armes zu widerstehen, welcher Stand gehalten hatte, um sich an dem Seile der Ueberfuhr schwebend bis über den Innstrom zu halten. Aber auch die Kraft des Mädchens wuchs mit der Entrüstung über den schändlichen Hinterhalt, und keuchend rang sie mit dem Burschen; aber als sie eben ihre Kraft erlahmen fühlte, fand sie sich plötzlich befreit und sprang aufathmend zur Seite.

Am Boden neben ihr kollerte Gori den Abhang des Rains hinunter, nachdem er zuvor im Zusammensturz an die Kante des Steinkreuzes angeschlagen, daß ihm das Blut vom Kopfe schoß. Ueber ihm stand eine hoch aufgerichtete Männergestalt, die in der Nähe versteckt gewesen sein mußte und eben recht kam, des Mädchens Erretterin zu werden.

Es war der Tiroler Stummerl.

Vergebens suchte Gori sich des Ueberfalls zu erwehren und den Angreifer, auf den er wie ein wildes Thier losstürzte, niederzuringen. Der Blödsinnige war ihm offenbar überlegen und deckte ihn wie einen schwanken Zweig zu Boden; vielleicht machte auch der Schmerz der Wunde und das strömende Blut seine Vertheidigung schwächer.

„Verfluchter Fex!“ rief er, „was thust? Was willst Du da? Wie kommst Du jetzt daher?“

Der Stummerl lachte thierisch auf und deutete ihm mit dem ausgestreckten Arm gegen den Inn, daß er sich entfernen solle. Und trotz aller Keckheit schien es dem Burschen gerathen, dem Winke zu folgen.

„Das denk’ ich Dir, Du Troddel!“ rief er, sich vollends aufraffend. „Wenn Du mir wieder in den Weg kommst, mach’ Dich gefaßt, dann ist’s Dein Letztes! Dir aber, Madel, Du Teufel von einem Weib, Dir drück’ ich’s in ein Wächsel, was Du mir gethan hast. Du willst nichts von mir wissen? Gut, mir steht die Nase gerade so hoch als Dir. Jetzt werd’ ich auch mit keinem Gedanken mehr an Dich denken, aber eintränken will ich Dir den heutigen Tag. Jetzt, wenn Du mir auf den Knieen nachrutschen und mit aufgehobenen Händen mich bitten wolltest, daß ich Dich nähm’ – jetzt thät’ ich Dich mit den Füßen zurückstoßen. B’hüt Gott! Schöne Genoveva. Du sollst mir an den heutigen Tag denken und verlaß Dich drauf, ich will’s pfiffiger anfangen als der dumme Golo.“

Er sprang den Rand der Straße hinauf, eilte quer über diese hinweg und verschwand jenseits in den Gebüschen, die sich nach den Auen des Inns hinunterzogen.

Gertl hatte sich aufgerafft und stand verwundert vor dem blöden Krüppel, der ihr nicht gebückt wie sonst, sondern aufrecht gegenüberstand, und den der Stelzfuß in seiner Bewegung und im Steigen nicht im Mindesten behindert zu haben schien.

„Fürcht’ Dich nicht, Madel!“ sagte er; „ich laß’ Dir nichts thun. Der Stummerl hat aufgepaßt und wird schon sorgen, daß Dir nichts geschieht.“

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