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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


bisher nicht die Rede gewesen, und die auch keine officielle Einladung zum Congresse erhalten hatte. Ich meine nicht Griechenland in seinem Ministerpräsidenten, nicht die Minister Rumäniens, Serbiens und Montenegros, die das Schauspiel von Leuten abgeben, welche vor einer geschlossenen Thür stehen und durch das Schlüsselloch um Einlaß rufen. Nein – die Großmacht, von der ich spreche, tritt stolzer und bewußter auf. Es waren Abgesandte der öffentlichen Meinung Europas, die Vertreter der europäischen Presse. Was wären die Diplomaten unserer Tage, was die Politik ohne die Oeffentlichkeit! Es war aus allen Richtungen der Windrose die leicht mit Feder oder Crayon gewappnete Schaar gekommen, die mit jenen heiligen vierundzwanzig Zeichen des Alphabets wie Puck einen Zauberkreis um den ganzen Erdkreis zieht und unseren Antipoden auf der anderen Hemisphäre verkündet, was zwölf Stunden vorher, während sie in süßem Schlaf begraben waren, Bismarck oder Beaconsfield, Gortschakoff oder Andrassy in der Wilhelmsstraße gesprochen, vorgeschlagen, discutirt haben über die schwebenden Fragen – Alles bis auf das, was die Regierer Europas am Büffet genossen haben. Das Büffet darf in unserer Zeit bei einer derartigen Verhandlung nie fehlen. Alle Details, bis auf die Prisen, die Einer aus der Dose des Anderen genommen hat, und wie oft sie geniest haben – das Publicum will das Alles wissen, wie das Große so das Kleine; es will den Wein wie das Gefäß kennen. Vom Hofe kam man diesen nicht-officiellen Vertretern in der ehrendsten Weise entgegen. Ein Hofbeamter in Uniform führte die Herren in höherem Auftrag die große Wendeltreppe hinan, durch sämmtliche Festsäle des Schlosses, und geleitete sie auf ihre Plätze, von denen sie die volle Uebersicht über die Festlichkeit des Hofes hatten und über manchen Collegen, der durch die schwarze Kunst des Schreibens und Druckens da unten auf die vornehmen Plätze gerückt war.

Da ist in der Wilhelmstraße, dicht neben dem Hause, in dem der Fürst-Reichskanzler bisher gewohnt hatte, und gegenüber dem alten Johanniterhause, jetzigem Palais des Prinzen Karl, ein großes, vornehmes Gebäude gelegen, mit einem zurückliegenden, zwei Etagen hohen Mittelbau. Von diesem springen zwei einstöckige Seitenflügel auf, die einen Vorhof bilden, der nach der Straße zu durch ein eisernes Gitter abgeschlossen ist. Es ist ein Palais, wie man deren im vorigen Jahrhundert baute, im Raum sich breit auslegend, prunklos und darum so aristokratisch. Von der anderen Seite stößt an dieses Haus ein prächtiger Park mit Jahrhunderte alten Bäumen, wie man ihn mitten in Berlin nimmer suchen würde. Fast ein Säculum lang war dieses Haus im Besitz der fürstlichen Familie von Radziwill. Bis zum Tode der beiden Brüder Boguslaw und Wilhelm wohnten deren beide, zahlreiche Familien einträchtig beisammen und führten gemeinsame Wirthschaft, bis das Haus vor wenigen Jahren um den Preis von sechs Millionen Mark in den Besitz des deutschen Reiches überging, um zur Wohnung des Reichskanzlers eingerichtet zu werden. In der Mitte des Corps de logis markirt sich ein pavillonartiger Ausbau, drei hohe Fenster zwischen vier Pilastern, die von einem Giebelfelde mit dem Wappen des deutschen Reiches gekrönt werden.

Das ist der Saal, in welchem das deutsche Reich den europäischen Staaten Hausrecht angeboten und eingeräumt hat. Hier finden die Sitzungen an einem in Hufeisenform aufgestellten Tische statt. Die Mitte desselben nimmt der Fürst-Reichskanzler als Vorsitzender des Congresses ein, an ihn reihen sich rechts und links die Bevollmächtigten der europäischen Großmächte, die Türkei mit eingeschlossen.

Zu den schon genannten Bevollmächtigten kommen für das deutsche Reich der deutsche Botschafter in Paris Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst und der Staatsminister von Bülow, für Oesterreich – die Staaten folgen nach dem französischen Alphabet – der österreichisch-ungarische Botschafter in Berlin Graf von Carolyi, für Frankreich der französische Botschafter in Berlin Graf St. Vallier, für Großbritannien der englische Botschafter in Berlin Lord Odo Russell, für Italien der italienische Botschafter in Berlin Graf Launey, für Rußland der russische Botschafter in Berlin Graf von Oubril, für die Türkei der türkische Botschafter in Berlin Saadoullah Bey. Die beiden Enden des Tisches nehmen die beiden Secretäre, der älteste Sohn des Reichskanzlers Graf Herbert Bismarck und Graf Muy von der französischen Botschaft, ein; sie führen das Protokoll in französischer Sprache. Außer diesen nehmen an den Sitzungen noch Theil der deutsche Gesandte von Athen Herr von Radowitz und als Vorstand des Bureaus Geheimer Legationsrath Dr. Bucher.

Dieser Verein auserlesener geistiger Kräfte befindet sich gegenwärtig in voller Arbeit, um die Festsetzungen des Vertrags von San Stefano zu discutiren, die russischen Ansprüche zu mäßigen und England wie Rußland die Möglichkeit zu geben, mit Ehre abzurüsten, dabei den Bestand der Türkei zu erhalten, für Oesterreich die Besetzung von Bosnien und der Herzegowina in Erwägung zu ziehen und ebenso die Forderungen Rumäniens, Serbiens und Montenegros zu prüfen. Die Sitzungen finden von zwei zu zwei Tagen statt, gewöhnlich in den Nachmittagsstunden von zwei Uhr ab bis vier oder viereinhalb Uhr. Bei der ersten Sitzung waren die Bevollmächtigten in Uniform, bei den nachfolgenden erschienen sie im einfachen Civilanzuge.

Vor Beginn der Sitzung und während derselben belebt ein zahlreiches Publicum die Zugänge zu dem Reichskanzlerpalais, das heißt soweit das die Schutzleute erlauben. Mit Interesse folgt es den einzelnen der am Congreß theilnehmenden Bevollmächtigten; mit leicht erklärlicher Neugierde gehen die Blicke hinüber nach den Fenstern, wo niedergelassene gestickte Vorhänge die Geheimnisse der Verhandlungen verhüllen, und mit Sehnsucht richten sich, wie gesagt, Wünsche aufwärts, daß die im Giebelfelde zu beiden Seiten des Reichswappens schwebenden Genien mit den Friedenspalmen ihre friedenverheißende Bedeutung erfüllen möchten.

Georg Horn.




Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XIX.

Nach der langen Unterbrechung dieser Correspondenz, verehrte Freundin, muß ich mich jetzt, da ich sie wieder aufnehme, kurz fassen, um der literarischen Bewegung bis heute nachzukommen. Ich beginne mit der Lyrik. Was haben uns nicht die letzten Weihnachtsfeste allein an lyrischen Erzeugnissen auf den Tisch gelegt! Welche zahlreiche Blüthenkränze und Perlenschnüre, welche Anthologien und Gedankenharmonien, wie viele Sendungen, in denen die Lyrik mit vereinten Kräften nach der Palme ringt, häufen sich auf dem deutschen Büchermarkte!

Leider! kann man sagen, die Lyrik gilt nur noch en masse; die einzelnen Dichter vermögen schwer auf dem Büchermarkte sich Anerkennung zu verschaffen. Dennoch erscheinen immer neue Sammlungen von Gedichten junger strebsamer Anfänger und bewährter Meister, und einige dieser Blüthensträuße, verehrte Freundin, will ich Ihnen in Ihre Vasen stecken.

Altmeister Emanuel Geibel hat wiederum sein Saitenspiel gestimmt und „Spätherbstblätter“ herausgegeben; es finden sich indeß darunter auch einige der allerersten ewiggrünen Blätter aus dem Lenze seines Lebens und seiner Dichtung. Der gemeinsame Zug der elegischen Spätherbstlyrik und jener Jugendgedichte ist der Adel der Form, der künstlerische Geist, der ernste Sinn. Die sprudelnde Genialität des kranken Dichters der Rue d’Amsterdam, sein oft frevelhafter Cynismus liegen Geibel gänzlich fern, der, wie Sie wissen, verehrte Freundin, auch ein kranker Dichter ist, aber an der deutschen Trave dichtet man keine Romanzen, wie an der französischen Seine; da weht selbst in den Krankenstuben eine gesunde Luft; geht doch der Blick hinaus auf die Giebel der alten, ruhmreichen Hansestadt, auf die grünen Wiesen, auf die Wimpel und Masten des schiffreichen Flusses.

Abendrothbeleuchtung: das ist das Colorit dieser Dichtungen, wehmüthiger Schimmer, über jenen Fernen schwebend, aus denen das Leben herkommt, den Fernen der Kindheit und der Jugend,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_479.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)