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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

der Snobs“, eine Satire, die der Punch veröffentlichte und die sowohl wegen des Stoffes als auch wegen der geistreichen Behandlung einen sehr ausgedehnten Leserkreis gewann.

Was aber ist ein Snob? wird der Leser fragen.

Ein Snob ist ein Philister. Man kann dieses Wort nicht einfacher und erschöpfender übersetzen. Was das Philisterthum in Deutschland, das ist der Snobismus in England. Der englische Philister unterscheidet sich zwar von dem deutschen Philister, wie sich überhaupt John Bull von unserem Michel unterscheidet; im Ganzen aber gleicht er diesem darin, daß ihm für alles Edle und Erhabene der Sinn fehlt, daß er sich nur in der Plattheit behaglich fühlt und sich gern denen anschließt, die so platt sind wie er selbst.

In der erwähnten Schrift lieferte Thackeray eine Naturgeschichte der verschiedenen Arten und Gattungen der Snobs. Er ist der Cuvier des Snob-Reichs, und seine Satire hat nicht wenig zur Verbreitung des „Punch“ beigetragen.

Thackeray arbeitete auch viel an „Frazer’s Magazine“ und lieferte für dasselbe z. B. eine sehr geistreiche satirische Skizze „Unsere Weiber“. Indessen diese und ähnliche Arbeiten erwarben ihm wohl Anerkennung, jedoch keinen allgemeinen Ruf. Man hielt ihn für einen geistvollen Literaten, der eine spitze Feder führte, aber für keinen Schriftsteller, der berufen wäre, in der englischen Literatur eine bleibende Stelle einzunehmen. Da trat er unerwartet mit dem ersten langathmigen Werke, mit dem Romane „Vanity fair“ auf, und seine Stellung als Schriftsteller ersten Ranges war gesichert. Dieser bereits genannte „Roman ohne einen Helden“ ist ein wahrhaftiger Spiegel von vielerlei Eitelkeiten. Er schildert in demselben „das bewegte Leben nach allen Seiten, die Heuchelei und Lächerlichkeit, die sich unter prächtigen Masken breit machen“ und führt namentlich den englischen Leser gleichsam in „einen Saal, von dessen Wänden ihn die Portraits all der Thoren anlachen, mit denen er während seiner Lebenszeit zusammengetroffen“.

Als ich eines Tages bei Thackeray war und er in seinen Papieren herumstöberte, fiel ihm eine Abschrift seines besten Romans in die Hände. Er zeigte mir dieselbe nicht ohne sichtbare Rührung und mit der Bemerkung, daß es ihm unendlich viel Mühe gekostet, für das Lieblingskind seiner Muse einen Abnehmer zu finden. Er liebte es überhaupt, in vertrauten Augenblicken von diesem Buche zu sprechen, das seinen düsteren Lebensverhältnissen eine solche günstige Wendung gegeben. Als ich an einem Winterabende mit ihm und einem irländischen Romanschriftsteller in einem kleinen, aber sehr gemüthlichen Zimmer des „Swan-Hôtel“ saß, zeigte er mir das Ecktischchen, an welchem er die Vorrede zu „Vanity fair“ geschrieben.

Sogleich nach dem Erscheinen dieses Romans wurde Thackeray der Held des Tages. „Vanity fair“ ward in allen Häusern gelesen, und der Autor war der Gegenstand der Unterhaltung in gebildeten und halbgebildeten, in aristokratischen und in aristokratischthuenden Kreisen. Noch ein anderer, höchst sonderbarer Umstand kam hinzu, seiner Persönlichkeit ein seltenes Interesse zu verleihen. Die Verfasserin des schönen Romans „Jane Eyre“, die pseudonyme Currer Bell (Miß Bronte), sprach in einer Vorrede ihre Bewunderung für das Talent Thackeray’s aus und stellte ihn über die englischen Humoristen des 18. Jahrhunderts. Das Publicum, das so oft den Autor mit dessen Helden verwechselt, glaubte nun, daß die Verfasserin der „Jane Eyre“ in diesem Roman ihr eigenes Leben geschildert und daß der Held dieses Romans, Rochester, kein Anderer wäre, als William Makepeace Thackeray. Das vermuthungssüchtige Publicum hatte für diese Vermuthung mehrere Gründe. Rochester, der Held des Romans „Jane Eyre“, schien nicht nur der Schilderung der äußeren Erscheinung nach ein Portrait Thackeray’s zu sein, sondern der Umstand, daß dessen Gattin seit Jahren an einer unheilbaren Geisteskrankheit litt, gab dieser Vermuthung einen noch weiteren Spielraum, und so machte man in den Londoner Salons einen Roman, in welchem ein Romanschriftsteller und eine Romanschriftstellerin die Hauptpersonen bildeten. Man behauptete sogar, daß Jane Eyre im Hause Thackeray’s lebe, und als ich mich einst in einer Gesellschaft befand, in der man wußte, daß ich Thackeray oft sehe, ward ich von allen Seiten mit der Frage bestürmt, ob ich nicht die Gouvernante seiner zwei Töchter kennte, die keine Andere wäre, als Currer Bell. Ich wußte recht gut, daß Miß Bronte damals in Yorkshire wohnte, und zwar als Jungfrau, die fast vier Dutzend Jahre hinter sich hatte und also älter war als Thackeray. Ich erfuhr von diesem, daß ihm der hinter seinem Rücken auf seine Kosten entworfene Roman nicht unbekannt war, ja, daß ihm einst einer seiner liebenswürdigen Landsleute geradezu mit der höchst naiven Frage zu Leibe rückte, was denn eigentlich an der Sache wäre? Thackeray, der ein Mann von Geist war und einen guten Spaß liebte, that sehr geheimnißvoll und mystificirte seinen zudringlichen Landsmann auf die komischste Weise.

Man hat Thackeray oft mit Dickens verglichen. Seine Freunde haben ihn hoch über diesen, seine Gegner mehr oder minder tief unter ihn gestellt. Freunde und Gegner sind in einem großen Irrthume befangen. Obgleich beide Schriftsteller die englische Gesellschaft zum Hauptthema ihrer Werke machen, sind doch diese himmelweit von einander verschieden. Dickens berührt nicht gern die höheren Schichten der Gesellschaft; Thackeray vermeidet in seinen Romanen absichtlich, die unteren Volksclassen zu berühren. Thackeray geißelt die höheren und mittleren Stände; Dickens schildert mit Vorliebe die niederen Volksclassen. Thackeray deckt nur die Thorheiten und Schwächen gewisser Stände auf, die Muse Dickens’ aber steigt selbst bis in den Abgrund der furchtbarsten Verbrechen hinab. Thackeray hat keine reiche Phantasie. Er schafft wenig Typen. Sein scharfer analytischer Verstand aber zersetzt jeden Charakter und zeigt uns die logische Nothwendigkeit in dessen Handlungen. In der Charakterschilderung ist Thackeray ein großer Meister. Dickens’ schöpferische Einbildungskraft führt uns eine Menge Personen vor und läßt sie in mannigfache Conflicte, in die unerwartetsten Situationen gerathen; diese Conflicte sind jedoch häufig zu gewaltsam herbeigeführt; diese Situationen sind selten motivirt. Dickens’ schwächste Seite ist die consequente Durchführung eines Charakters. Man verzeiht ihm indessen diese Fehler, sowie man ihm seine häufigen Sünden gegen den guten Geschmack und seine unkünstlerische Effecthascherei verzeiht, und zwar wegen des Adels seiner Gesinnung und der ihm eigenthümlichen, sich niemals verleugnenden Gefühlswärme.

Dickens sitzt fest im Herzen seines Volkes. Er war auch persönlich sehr beliebt, und zu denen, die ihn am aufrichtigsten liebten, gehörte Thackeray, der keinen Handwerksneid kannte und auch von keiner Literaten-Eitelkeit besessen war. Die Siege eines Andern raubten ihm nicht den Schlaf, und seine eigenen Siege verblendeten ihn durchaus nicht über sich selbst. Man konnte die allerstrengste Gerechtigkeit gegen ihn üben, ohne sich seinem Groll auszusetzen. Thackeray hatte eine derbe Haut. Er gehörte nicht zu jenen Schriftstellern, die Ach und Zeter schreien, wenn sie von irgend einem literarischen Floh gestochen werden. Er wußte auch recht gut, daß er niemals die Popularität Dickens’ erlangen, daß er niemals in die unteren Volksschichten dringen würde. Beide Schriftsteller waren während kurzer Zeit etwas über den Fuß gespannt, schlossen sich aber bald um so inniger an einander an, und ihre Freundschaft ging auf ihre Kinder über.

Thackeray hatte viel Verstand, er war aber kein bloßer Verstandesmensch. Er räumte dem Verstande keine tyrannische Gewalt über sein Herz ein; ja, er war sogar einer der gefühlvollsten Menschen, die man sich denken kann. Als ich ihm nach der Lectüre des „Pendennis“ bemerkte, daß mir die Mutter dieses Romanhelden der gelungenste und sympathischste Charakter schiene, deutete er tief gerührt auf das Portrait seiner Mutter, das in seinem Arbeitszimmer hing, und rief: „Das ist die Mutter des Pendennis!“ Man weiß, welche Rolle dem Muttergefühl in „Vanity fair“ zugetheilt ist. Das Bild seiner Mutter schwebte beständig vor seiner Phantasie.

Kurze Zeit bevor ich die Bekanntschaft Thackeray’s machte, wurde Gorehouse, die prächtige Residenz der Lady Blessington, mit dem kostbaren Inhalt von Möbeln, Büchern und Kunstgegenständen versteigert. Die Besitzerin hatte sich genöthigt gesehen, vor ihren Gläubigern nach Frankreich zu fliehen, und in den prunkenden Gemächern, wo die berühmtesten und geistvollsten Männer Europas sich so oft versammelt, drängten sich Krämer aller Confessionen, jeden Gegenstand betrachtend und taxirend. Aber auch viele Neugierige, die das Haus in seiner Pracht und Herrlichkeit gekannt, kamen herbei, um an dem Contraste sich zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 471. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_471.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)