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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Excessen seiner oft stürmisch erregten, schäumende Wogen aufwerfenden Mutter Elbe – es fluthet und ebbt vorschriftsmäßig, wie es im Hamburger Kalender steht. Ganz besonders trägt hierzu bei, daß der Fleetverkehr, da das Niveau der Elbe von dem der Alster wesentlich verschieden ist, durch Schleußen (Schleußenbrücke, Graskeller, Ellernthorbrücke) vermittelt wird. Der Anblick der von der Ebbe trocken gelegten Fleete ist freilich kein sehr anmuthiger oder appetitlicher. Aber selbst in dem nun zu Tage tretenden Schlammboden findet der Mensch eine Quelle seines Unterhaltes. Mit hohen Wasserstiefeln an den Beinen, einen Korb auf dem Rücken und einen Stab mit eisernem Haken in der Hand, erscheint der „Fleetenkieker“, eine besondere Species der Hamburger Lumpensammler, welcher die auf dem Boden des Fleets versenkten verlorenen Gegenstände hervorsucht.

Nur in einem Falle neigt das geduldige trübflüssige Gewässer des Fleets zum Excesse und führt denselben oft auf das Nachdrücklichste aus. Wenn ein steifer Nord-Wester um die Giebel und Dächer heult und schwere Regenwolken über die düstere Elblandschaft hinziehen, dann blickt der Bewohner der Räume, welche zunächst über dem Wasserspiegel gelegen sind, bedenklich zum Himmel hinan und auf die Höhe des Wasserstandes hinunter: Es wird Sturmfluth geben diese Nacht. Er rüstet seine Habseligkeiten zum schleunigen Transporte und legt sich zu Bette „wie immer, aber zum Sprunge bereit“.

Die Nacht ist vorgeschritten – da schnellt er in die Höhe und horcht – ein schwerer, dumpfer Schlag schmettert über die Straßen hin – wieder einer – ein dritter. Die Geschütze auf dem Stintfange am Hafen benachrichtigen die Bevölkerung, daß die Telegramme von Cuxhaven hohe Fluth verkünden. Noch braucht er keine Ueberfluthung seines Heimwesens zu befürchten, wenn keine neuen Signale erfolgen; die ersten drei Schüsse gelten nur zur Warnung. Aber da donnert es schon wieder herüber – ein-, zwei-, dreimal! Nun gilt es, das Feld zu räumen; Alles, was transportabel und vom Wasser zerstörbar ist, wird hinaufgeschleppt, während neue Salven über die Stadt rollen; bald sickert die dunkle Fluth über die Diele und steigt plätschernd an den Wänden empor. Wie Mancher aber – sei es in Folge eines allzu gesunden Schlafes, sei es, weil das Sturmgeheul die Signale verschlang – ist erst davon erwacht, daß das Wasser bereits sein Bett umspülte! Da gilt dann freilich kein langes Besinnen; nach den Hausschuhen braucht man nicht zu suchen; sie schwimmen schon handgerecht am Bettrande, und aus den warmen Federn geht es hinein in das kalte Element.

Wirklich lebensgefährliche Situationen sind jedoch dabei höchst selten. Die „Lüd von de Waterkant“ haben eine gewohnheitsmäßige Technik für solche Fälle erworben, welche zur Zeit der Aequinoctien regelmäßig, ja oft, besonders wenn die Elbe hohen Wasserstand hat, tagelang hinter einander wiederkehren. Ja, sie wundern sich wohl, wenn die Ueberschwemmung ausbleibt, daß der Keller „gar nicht gespült worden ist“.

Wenn man bedenkt, daß die Ueberschwemmung jedes Mal einige Stunden andauert, so bleibt es für unsere Anschauung unbegreiflich, wie Menschen hiernach wieder in den durchnäßten Räumen, Wasserratten gleich, existiren können; freilich sind Rheumatismus und ähnliche Leiden ihre Stubengenossen, aber dennoch gestalten sich die feuchten Räume nicht in dem Grade zu Krankheitsherden, wie man zu glauben geneigt sein dürfte.

Wir schließen unsere Schilderung vom „venetianischen Hamburg“, nicht ohne unseren Lesern dringend anzurathen, bei einem Besuche der stolzen Elbstadt diese charakteristische Seite derselben genauer in’s Auge zu fassen, als das meist von den Fremden zu geschehen pflegt; wer die Fleete besucht, der wird sich – und namentlich der Binnenländer – in einer ganz fremdartigen Welt finden und die dort empfangenen Eindrücke jedenfalls als ganz besonders interessant in seinem Tagebuche verzeichnen.


William Makepeace Thackeray.
Von Ludwig Kalisch.

Es war an einem heiteren Sommermorgen 1850, als ich mich, mit einigen freundlichen Zeilen von Philarète Chasles versehen, zu Thackeray, dem berühmten englischen Humoristen und Romandichter, begab. Der Bediente, der mir die in England stets verschlossene Hausthür öffnete, bemerkte, daß sein Herr um diese Stunde Niemand vorließe. Da ich indessen den weiten Weg nicht noch einmal zurücklegen wollte, so übergab ich ihm das Einführungsschreiben. Bald kehrte er zurück und zeigte mir die Thür, die zum Zimmer seines Herrn führte.

Ich öffnete sie, und ein riesiger Mann in einem leinenen Rocke trat mir entgegen und hieß mich mit einem herzlichen Händedruck willkommen. Er hatte eine Radirnadel in der Hand, da er gerade beschäftigt war, die Illustrationen zu den letzten Heften seines Romans „Arthur Pendennis“ zu vollenden. Er reichte mir eine Cigarre und stellte mir einen Stuhl neben den seinigen; während er mit der Nadel arbeitete, unterhielt er sich auf’s Lebhafteste mit mir von tausenderlei Dingen, besonders aber von deutscher Literatur. Ich sah bald, daß er von derselben eine genauere Kenntniß hatte, als man sie gewöhnlich bei einem Ausländer voraussetzen darf, und als ich ihm darüber meine Verwunderung ausdrückte, sagte er mir, daß er in seiner Jugend mehrere Jahre in Deutschland zugebracht, daß er längere Zeit in Weimar gelebt und den Olympier Goethe persönlich gekannt habe. Ich bemerkte in Allem, was er sprach, eine außerordentliche Klarheit, eine besonnene Würdigung der Zeitverhältnisse und eine scharfe, aber richtige Beurtheilung der Menschen. Besonders freute es mich, in seiner Unterhaltung nichts von jenem affectirten Wesen zu entdecken, das so viele Schriftsteller diesseits und jenseits des Canals auszeichnet und deren Umgang so unausstehlich macht. Er sprach wenig oder gar nicht von sich selbst und suchte auch nicht im Geringsten die Gelegenheit, sich zum Gegenstande der Unterhaltung zu machen. Er klagte weder über das Publicum, noch über die Buchhändler; er beschwerte sich weder über die Recensenten, noch über seine Musengenossen, und er zog seinem Gespräche keine Sonntagskleider an, damit es in irgend einem Journale dem Leser wortgetreu überliefert würde. Kurz, Thackeray machte auf mich, der ich schon so viele Jünger Apollo’s in Deutschland und in der Fremde gesehen, einen höchst günstigen Eindruck, und als meine Cigarre ausgeraucht war und ich mich von ihm verabschiedete, wünschte ich recht lebhaft, mit ihm genauer bekannt zu werden.

Dieser Wunsch wurde auf’s Allerbefriedigendste erfüllt. Während meines mehrjährigen Aufenthaltes in London war ich oft, ja zu gewissen Zeiten fast täglich in seinem Hause und im Kreise seiner Familie, sodaß ich Gelegenheit gehabt, ihn genauer kennen zu lernen, als so Viele, die über ihn geschrieben.

Man weiß, daß der Verfasser der „Vanity fair“, auf welches Werk wir sogleich zurückkommen werden, seine trüben, seine kummervollen Tage hatte, daß gar manches traurige Jahr verging, bis es ihm gelang, seinem Talente die gebührende Geltung zu erkämpfen. Der Weg zum Ruhme ist viel dornenvoller, als die unberühmten Leute glauben. Man muß außer dem angeborenen Talente einen eisernen Willen, eine eiserne Kraft besitzen, um nicht auf halbem Wege zu erliegen. Thackeray ist 1811 in Calcutta geboren, wo sein Vater Beamter der ostindischen Compagnie war, und kam noch jung genug mit seinen Eltern nach London, um in voller Frische wissenschaftliche und Kunststudien treiben zu können. Nachdem sein Vater jedoch sein nicht unbeträchtliches Vermögen in falschen Speculationen verloren hatte, sah sich der junge Mann in die peinlichste Lage versetzt, und er hatte Zeiten, wo er mit seiner Familie darben mußte. Er floh in die Literatur; seine ersten Leistungen erwarben sich jedoch nur Geltung in engeren Kreisen. Vielen war seine Satire unverständlich; Anderen erschien sie gehässig, und so sah sich Thackeray als Autor vieler Schriften mehr recensirt als gelesen, und mehr gelesen als verstanden. Seine „Irländischen Skizzen“ sowie seine „Reise von Cornhill nach Kahira“, die er unter dem Namen Michael[WS 1] Angelo Titmarsh herausgab und als gewandter Zeichner selbst illustrirte, erwarben sich einige Gunst, aber sie versprachen nichts weniger als eine glänzende literarische Laufbahn. Eines bedeutenden Erfolges erfreute sich jedoch sein „Buch

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Michel
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 470. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_470.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2019)