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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Er schien die richtige Saite berührt zu haben: Lina reichte ihm die Hand und wandte sich festen Schritts, beinahe als wenn nichts vorgefallen wäre, der Treppe in’s obere Stockwerk zu; sie stieg die Stufen hinan und wies die Unterstützung Gertl’s zurück, die ihr mitleidsvoll, wie sie dem ganzen Vorfalle zugesehen zur Seite schritt.

Der Vater schien bisher den hülfreichen Künstler gar nicht gewahr geworden zu sein; als Lina auf der Treppe verschwunden war, nahte er demselben und redete ihn mit kurzer Verbeugung in einem Tone an, dessen Kälte sich zu der Wärme seines früheren verhielt, wie der Eishauch in den sibirischen Zobelwäldern zu dem lauen Blüthenathem, der durch Andalusiens Myrtenbüsche fächelt.

„Der Anstand fordert, daß ich für Ihre Hülfeleistung danke, Herr von Linkow,“ sagte er. „Ich thue es hiermit in aller Kürze, da doch, wie ich annehmen zu dürfen glaube, keine Aussicht besteht, Ihnen wieder zu begegnen.“

Linkow war seiner augenblicklichen Bewegung ebenfalls schnell Herr geworden; frostig, aber mit der Art des vollendeten Weltmannes erwiderte er, seine Geräte zusammenraffend und sich anschickend, das Haus wieder zu verlassen: „Es ist nichts geschehen, Herr Oberforstrath, was irgend dankenswerth wäre – aber mich werden Sie zu lebhaftem Danke verpflichten, wenn Sie die Ueberzeugung mit sich nehmen, daß diese Begegnung ein reines Werk des Zufalls war. Eine große Gebirgslandschaft hat mich bestimmt, Berlin, wo ich für immer zu bleiben gedachte, noch einmal zum Zwecke einer Studienreise zu verlassen, die mich nach Brandenburg führte – dem beliebten Sammelpunkte der Maler, wie Ihnen bekannt sein dürfte. Ich kann daher nur auf’s Tiefste bedauern, wenn mein Erscheinen dahier der unselige Anlaß …“

Der Oberforstrath ließ ihn nicht aussprechen. „Sie sind in großem Irrthume, Herr von Linkow,“ sagte er, „wenn Sie das Unwohlsein meiner Tochter mit Ihrem Erscheinen in Beziehung bringen. Das Zusammentreffen beider Umstände ist ein reines Werk des Zufalls; Lina hat sich einfach verkühlt und wird sich in wenig Augenblicken erholt haben. Was aber das Vorkommen von Rückfällen betrifft, so werde ich zu sorgen wissen.“

„Das wird unnöthig sein, Herr von Waldner,“ entgegnete Linkow; „so lange mein Brandenburger Aufenthalt dauert, wird sich keinerlei Gelegenheit ergeben, weder zu Rückfällen noch Zufällen; darauf gebe ich Ihnen mein Wort.“

Eine knappe Verbeugung, und die Männer trennten sich; Linkow verließ das Haus. Waldner wandte sich der Treppe zu, um in’s obere Stockwerk zu gelangen und sich von Lina’s Befinden zu überzeugen.

(Fortsetzung folgt.)



Ein Königshof vor hundert Jahren.
Zur Beherzigung für heute.

Jeder unbefangene Beurtheiler wird den Kopf schütteln, wenn er die socialistischen Umstürzler unserer Tage mit dem Wirthshauspathos der Phrase über Elend, über unerträglichen Druck, über Aussaugung durch die höheren Classen, „welche sich vom Schweiße des Arbeiters nähren“, declamiren hört. Daß der arbeitende Mann nichts zu wünschen übrig hätte, wird Niemand behaupten; daß er seine Lage zu bessern trachtet, wird ihm Niemand verdenken. Aber daß jene aufgebauschten Phrasen nichts als ein künstliches Aufwiegelungsmittel sind, um Kraftanstrengungen hervorzubringen, welche die wirkliche Lage der Dinge natürlich und von selbst nimmer erzeugen würde, das liegt doch für Jeden der sehen will, auf der Hand. Um indessen vollkommen zu begreifen, wie übertrieben jene Klage über Aussaugung durch die bevorzugten Gesellschaftsschichten über den Luxus und Prunk oben und das Elend unten in Wahrheit sind, muß man sich in eine Zeit zurückversetzen, welche die Mutter jener Phrase gewesen ist, in eine Zeit, in der dieselben noch keine Phrasen waren, sondern einer traurigen Wirklichkeit entsprachen. Wir meinen die Zeit Voltaire’s und Rousseau’s, welche die französische Revolution gebar und deren allgemeines Bild in unserem Artikel über Voltaire („Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte“ Nr. 1.) in großen Zügen dargestellt ist. In wie ganz unglaublichem Grade der damals bestehende Contrast von Oben und Unten von der Lage der Verhältnisse in unserer Zeit absticht, wie sehr unsere Socialdemokraten der geschichtlichen Vergangenheit gegenüber im Ganzen Ursache haben, ihr Dasein erträglich zu finden, das mag die folgende Schilderung der französischen Hofhaltung vor hundert Jahren bezeugen, zu welcher des Franzosen Taine Buch „Les Origines de la France contemporaine“ das Material geliefert hat.

Wahrlich, ein buntes Leben war es, das Leben am Hofe zu Versailles! Nicht der König allein hielt Hof; jeder Prinz, jede Prinzessin, die hohen Adelspersonen, die geistlichen Würdenträger, jede reiche oder bedeutende Persönlichkeit sammelte ihren eigenen Hof um sich. Sobald ein Prinz oder eine Prinzessin fünf oder sechs Jahre alt war, wurde ein eigener Hofstaat gebildet. Wenn ein Prinz sich verheirathete, erhielt die Prinzessin ihren eigenen Hofstaat. Und unter dem Worte „Hofstaat“ muß man sich eine Bedienung vorstellen, die aus fünfzehn oder zwanzig verschiedenen Abtheilungen bestand: Marstall, Jägerei, Officianten der Hauscapelle, Hausärzte, Hausapotheker, Kammer- und Garderobediener, Tafeldienst, Bäckerei, Küche, Kellerei, Obstamt, Pelzbewahrer, Rechnungskammer etc. Ohne diese Umgebung fühlte man sich nicht als Prinzessin.

Bei der Schwester des Königs gab es zweihundertzehn verschiedene Aemter; bei der Gräfin von Provence zweihundertsechsundfünfzig; bei dem Herzoge von Orleans zweihundertvierundsiebenzig; bei der Königin vierhundertsechsundneunzig. – Monsieur, der älteste Bruder des Königs, hatte einen Civilhofstaat von vierhundertzwanzig Personen und hundertneunundsiebenzig Mann Haustruppe. Der Hofstaat des Grafen von Artois, bekanntlich eines jüngeren Bruders des Königs, bestand aus sechshundertdreiundneunzig Personen. Der größte Theil dieser Angestellten war nur des Gepränges wegen vorhanden.

Wenden wir aber unsere Blicke ab von den Gestirnen zweiten Ranges und richten wir sie auf die königliche Sonne! Der König brauchte eine Wache, Fußvolk und Reiterei. Und jeder Theil des Palastes, jeder Theil des Zuges, wenn der König ausfuhr oder ausritt, oder wenn er sich aus einem Gemache in ein anderes begab, hatte eine besondere Garde: Leibgarde, französische Garde, Schweizer-Garde, Hundertschweizer, Gensd’armen-Compagnie, Thürwächter, im Ganzen, nachdem im Jahre 1775 eine Verminderung stattgefunden, neuntausendundfünfzig Mann, die jährlich sieben Millionen sechshunderteinundachtzigtausend Franken kosteten.

Als Edelmann war der König natürlich auch Reiter, und ein verhältnißmäßiger Marstall war unentbehrlich. Er hatte tausendachthundertsiebenundfünfzig Pferde und zweihundertsiebenzehn Wagen zu seiner Verfügung. Die Angestellten jeder Art, mehr als tausendfünfhundert, die der König kleidete, kosteten ihm jährlich an Livréen fünfhundertvierzigtausend Franken. Unter diesen Angestellten waren zwanzig Professoren und Hofmeister für die Pagen und etwa dreißig Aerzte und Apotheker. Vor der Reform befanden sich dreitausend Pferde in des Königs Ställen. Im Ganzen beliefen sich im Jahre 1775 die Ausgaben für diese Posten auf vier Millionen sechshunderttausend Franken und im Jahre 1787 waren sie auf sechs Millionen zweihunderttausend Franken gestiegen. Man vergesse dabei nicht, daß nach dem jetzigen Geldwerte diese Summe wenigstens das Doppelte oder das Dreifache betragen würde.

Um in damaliger Zeit als ein vollkommener „Cavalier“ angesehen zu werden, mußte man auch ein tüchtiger Jäger sein. Die Jagd nahm jährlich ungefähr eine Million zweihunderttausend Franken in Anspruch und beschäftigte außer den Pferden des Marstalls noch zweihundertachtzig andere Pferde. Natürlich war eine Meute für die Saujagd, eine andere für die Hirschjagd, eine andere für die Wolfsjagd vorhanden, und Beizvögel für die Elstern- oder die Hasenjagd durften auch nicht fehlen. Im Jahre 1783 wurden über zweiundfünfzigtausend Franken für die Nahrung der Hunde verausgabt.

Die ganze Umgebung von Paris, zehn Stunden in die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 460. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_460.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)