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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Bald war das Mahl aufgetragen und wurde mit vollster Befriedigung verzehrt; die Fische waren trefflich zubereitet und auch die Hühner entsprachen vollkommen dem wohlgegründeten Rufe ihrer Zubereitung. „Was meinst Du, Lina?“ sagte der befriedigte Vater, „mir gefällt es hier, und ich hätte nicht übel Lust, statt in Oberaudorf hier unser Standquartier aufzuschlagen und den freundlichen Ort zum Standpunkt unserer Ausflüge zu machen. Ich denke, Du sollst Dir nach Tisch die Zimmer, die wir haben können, und die Betten besehn, und wenn sie entsprechen, wie ich hoffe, wollen wir hier bleiben, wo es mich recht angenehm anheimelt. Es wird sich wohl Gelegenheit finden, unser vorausgeschicktes Gepäck hierher bringen zu lassen – dann sind wir durch nichts gebunden, und auf einer Ferienwanderung, wie die unsere, sind solche rasche Entschlüsse oft vom angenehmsten Erfolge.“

Lina fand gegen den Plan nichts einzuwenden, und als Gertl wieder kam, um abzuräumen, schickte sie sich an, mit ihr und dem Wirthe, der ebenfalls herbeikam und mit lebhafter Befriedigung das Vorhaben seiner Gäste vernahm, die Besichtigung der Zimmer vorzunehmen.

Aber auch dies sollte nicht ohne kleinen Aufenthalt geschehen. Wohl hatte sich Spitz eine Weile dem Rufen und Abwehren gefügt, die Hirschkuh in Ruhe gelassen und sich mit den Abfällen der Mahlzeit beschäftigt, jetzt aber erhob er von Neuem sein Gekläff und belferte vor der Stelle des Heckenzauns, wo sich schon vorher das nicht beachtete Huschen und Rauschen hatte hören lassen. Gertl eilte hinzu, um nachzusehen, fuhr aber mit einem halben Aufschrei des Schreckens zurück, der auch den Wirth in die Nähe rief.

Eine wunderliche Gestalt hob sich unter einem größeren Heuschober auf, in dem sie sich im Winkel vergraben gehabt hatte.

Der Schrecken des Mädchens über den unerwartete Anblick war wohl erklärbar. Es war ein Krüppel der bedauernswerthesten Art, der mit der Verlegenheit des Stumpfsinnes der rasch versammelten Gesellschaft gegenüber stand. Die kräftigen Glieder steckten in einem zerrissenen und buntgeflickten Gewande, wie es einem Bettler zustand; das eine Bein war lahm und durch einen plumpen Stelzfuß gestützt. Wirres rothes Haar sträubte sich um die halb verdeckte Stirn; ein verwilderter Bart von gleicher Farbe hing fast auf die Fetzen des verschossene Lodenwammses herab. Mit einem lallenden „Bitt gar schön“ hielt er einen elenden, lumpigen Hut vor sich hin. Das Einzige, was nicht recht zu der ganzen Erscheinung stimmen wollte, war der ungewöhnliche Glanz der Augen, die unter den buschigen Brauen hervorblitzten und unbewegt wie starr an Gertl hangen blieben – ein letzter trügerischer Rest einer vielleicht tüchtigen, im Elend untergegangenen Menschlichkeit.

„Der Tiroler Stummerl!“ rief der Wirth halb lachend, halb ärgerlich. „Das hat man sich einbilden können, daß der heut nicht ausbleiben wird. Brauchen nicht zu erschrecken,“ fuhr er dann zu den Gästen gewendet fort, „es ist nichts zu fürchten mit dem Menschen – es ist ein halbstummer Bettelmann aus Tirol, der sich überall nach Baiern hereinschleicht, wenn irgendwo eine Festivität los ist, bei der er glaubt, es könnte auch für ihn etwas abfallen. – Wie bist Du nur da hereingekommen?“ fuhr er dem Bettler zugewendet fort, der zur Antwort mit lachendem Grinsen nach der Ecke deutete, wo sich in der Hecke eine von innen nicht leicht zu bemerkende Lücke zeigte.

„So? Da bist herein?“ begann der Wirth wieder. „Gut, daß ich’s jetzt weiß – jetzt werd’ ich dafür sorgen und das Loch zustopfen, daß mir keine solchen ungebetenen Gäste mehr herein kommen. Aber jetzt mach’, daß Du hinauskommst! Geh’ in die Kuchel und laß Dir ’was zu essen geben und komm’ mir nicht wieder, sonst kommst Du nicht so gut fort.“

Grinsend und nickend schickte der Bettler sich an, durch den Garten hinaus zu humpeln, aber immer noch hafteten seine Augen auf Gertl; es schien, als ob er sich nicht satt sehen könne an ihr: mitten im Geh’n hielt er sogar inne und that ein paar Schritte auf das Mädchen zu, daß dasselbe abermals erschreckend zurückfuhr.

„Was der Mensch nur von mir will?“ rief sie. „Er thut ganz bekannt mit mir.“

„Wirst ihm halt gefallen, Gertl!“ ewiderte lachend der Wirth. „Kannst Dir ’was einbilden auf die Eroberung.“

Sie schritten dem Ausgange entgegen, hinter ihnen Lina, um sich die Zimmer zeigen zu lassen. Der alte Herr kehrte zum Nußbaum und der dort aufgepflanzten Weinflasche zurück; leerte noch sein gefülltes Glas und lehnte sich an den Stamm des Baumes, um sich dem daheim wohl gewohnten Vergnügen eines Mittagsschläfchens hinzugeben.

Es sollte ihm nicht so gut werden.

Kaum begann der Schlummerthau sich auf seine Augen zu senken, als es ihm wie eine rauhe Hand über das Antlitz fuhr und den süßen Tropfen von den Wimpern wischte. Aus dem Hauseingang war ein Schrei erklungen, scharf und schrill, wie nur das Entsetzen oder der daran grenzende Schrecken einer schmerzlichen Ueberraschung ihn aus der menschlichen Kehle hervorzurufen vermag. Die Stimme kam ihm bekannt vor – es war ihm, als ob Lina ein Unfall zugestoßen sein könnte – er eilte den Hügel hinab. Allein schon vor der Thür kam ihm Karl, der wach und flinker gewesen war, entgegen und rief ihm zu, er solle nicht erschrecken; Schwester Lina sei unwohl geworden.

Er fragte nicht nach der Ursache, aber er verdoppelte seine Schritte, und die flüchtig ihn anwandelnde Blässe ließ errathen, wie sehr sein Herz an dem Mädchen hing, wenn er auch dem Knaben nichts anderes antwortete als ein barsches: „Wird nichts zu bedeuten haben! Sie hat wohl wieder einmal in die Hitze hinein getrunken.“

Den Anblick, der ihm im Hause bevorstand, mochte er nicht erwartet haben. Umringt von einem Knäul erregt durch einander redender Menschen, von denen jeder den Unfall zu erklären und ein Mittel dafür zu geben suchte, lehnte seine Tochter, in Wahrheit einer geknickten Lilie gleichend, mit schlaff herabhängenden Armen, mit dem Haupte rückwärts gelehnt in den Armen eines Mannes, in dessen gewinnender Erscheinung sich die volle Blüthe der Jugend mit der heranreifenden Kraft schöner Männlichkeit um den Vorrang zu streiten schien. Das kräftig geschnittene Angesicht war von einem dichten schwarzen Vollbarte umrahmt, während das Haupthaar, an der Stirn gescheitelt, lang und frei über Rücken und Schultern fiel. Neben ihm am Boden lagen seine Geräthschaften, die ihm entfallen waren, als er der Umsinkenden beisprang – es waren die eines auf der Studienreise befindlichen Malers – der starke Mann schien Mühe zu haben, die trotz der Erschlaffung leichte Last des schönen Mädchens aufrecht zu erhalten; seine Arme und Hände bebten im Krampfe der Leidenschaft, und in den Augen flimmerte es wie eine im Werden erstickte Thräne.

De herantretende Vater hatte rasch seine volle Fassung wieder gewonnen. Alles drängte und redete auf ihn hinein, und besonders der Wirth ließ nicht nach, zu wiederholen, wie das Fräulein kaum bis an die Mitte der Flur gekommen war, als sie laut aufgeschrieen habe und zusammengeknickt sei wie ein Taschenmesser, wie es ein wahres Glück gewesen sei, daß gerade im nämlichen Augenblick der Herr Maler in die Thür getreten sei, Alles weggeworfen und sie aufgefangen habe, sonst wäre sie vollends hingestürzt und hätte sich auf dem Pflaster sicher weh gethan.

Der Vater achtete nicht auf das Gerede; gelassen und sogar kalt war er zu dem Maler getreten und hatte ihm die Besinnungslose eben in dem Momente abgenommen, als sie aus der Ohnmacht wieder zu erwachen begann. Sie hob die Hände nach Auge und Stirn empor, blickte verwirrt umher, als sie das Antlitz des Malers über sich gebeugt sah und seine Arm um ihren Leib geschlungen fühlte, dunkelte eine tiefe Röthe der Scham und der Entrüstung ihr bis auf Hals und Nacken hinab. Hastig riß sie sich los, um sich, in Schmerzliches Schluchzen ausbrechend, in die Arme des Vaters zu werfen und ihr Gesicht an seiner Brust zu verbergen.

„Wie oft habe ich Dich schon gewarnt, unfolgsames Kind,“ sagte er mit warmer Herzlichkeit, „Dich vor plötzlicher Abkühlung in Acht zu nehmen! Beruhigt Euch, meine lieben Leute! Es ist nichts Bedenkliches dabei; es ist nichts, als daß das Mädchen von draußen aus der Sommerhitze unvermittelt in die kühle Hausflur eingetreten ist. – Geh’, mein Kind!“ setzte er noch milder hinzu, indem er ihr die Stirn streichelte, „laß Dir, wie Du ohnehin vorgehabt, unsere Zimmer zeigen und suche eine Gelegenheit, auszuruhen und Dich zu erholen! In einer halben Viertelstunde ist Alles vorüber – ich kenne ja meine entschlossene Tochter.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_459.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)