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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

bisweilen im Hause der Frau von Warens ihre Musikstücke executirte, hatte ihn in seinen musikalischen Neigungen bestärkt. Der Dirigent der Capelle gab ihm längere Zeit Stunden, bis der Schüler sich für fähig hielt, selbst als Lehrer aufzutreten. In diesem neuen Berufe zog er zwei Jahre umher, bis wiederum seine alte Freundin, die inzwischen nach Chambéry übergesiedelt war, ihm ihr gastliches Landhaus „les Charmettes“ öffnete. Eine ernste, langwierige Krankheit machte ihm die Fortsetzung seines Berufes unmöglich; in der reizenden Idylle dieses Aufenthaltes, die er so schön geschildert, gab er sich nun Studien hin, welche seine Krankheit ihm erlaubte, einer Lectüre, die ebenso umfassend wie anregend war, er las die Werke berühmter englischer, französischer und deutscher Philosophen, die französischen Classiker, studirte Astronomie und Mathematik.

In diesem „Paradies der Jugend“ reifte seine Bildung; die Aussicht auf ein längeres Leben wuchs, in welchem er die erworbenen Kenntnisse hoffte verwerthen zu können. Ungünstige Vermögensverhältnisse seiner Beschützerin schieden ihn von dieser; er wandte sich anfangs nach Lyon, wo er als Erzieher eine Stellung in einem angesehenen Hause fand, dann nach Paris, wo er im Jahre 1741 eintraf. Seine Hoffnung, hier durch eine Ziffernschrift, mit der er die Notenschrift ersetzen wollte, sein Glück zu machen, scheiterte. Die Akademie prüfte dieselbe und fällte eine ungünstige Entscheidung. Rousseau suchte und fand Zutritt in den tonangebenden Salons, wo allerdings sein unbeholfenes Wesen abstieß, seine interessanten Züge und schönen Augen aber Eroberungen machten. Durch die neugewonnenen Beziehungen gelang es ihm, die Stelle als Secretär des Grafen Montaigu, des französischen Gesandten in Venedig, zu erhalten, eine Stelle, die ihm den Luxus einer Equipage und einer Theaterloge einbrachte; doch seine geistige Bedeutung, die der Gesandte anfangs wohl erkannte und sich nutzbar zu machen wußte, wurde diesem mit der Zeit unbequem, und da Rousseau sie keineswegs in den Schatten stellen ließ, so kam es bald zur Lösung des Verhältnisses. Die Versuche, als Componist Geltung zu gewinnen, mißglückten; doch die freundschaftlichen Beziehungen, in welche Rousseau zu Diderot getreten, sollten ihm bald eine andere Bahn des Erfolges öffnen. Auf den Rath des Freundes entschloß er sich, eine Preisfrage der Akademie von Dijon zu beantworten (1749), und seine Antwort errang den Preis, obschon sie, der allgemeinen Anschauung entgegen, den förderlichen Einfluß der Wissenschaften und den Segen der Civilisation in Frage stellte. Doch dies geschah in so scharfer schlagender Weise, die Paradoxen selbst wurden mit so eindringlicher Beredsamkeit verkündet, daß die Schrift das größte Aussehen machte. Nicht lange darauf erlangte Rousseau auch auf künstlerischem Gebiete einen schönen Erfolg; sein Singspiel „Le devin de village“ („der Dorfprophet“), das er im Stil der von ihm bewunderten italienischen Musik verfaßt hatte, wurde mit vielem Beifall anfangs in Fontainebleau vor dem Hofe, dann in Paris aufgeführt. Er trat dann in Flugschriften als Anwalt der italienischen Musik, mit heftiger Verurtheilung der französischen, auf. Als die Akademie von Dijon im Jahre 1753 die Frage nach dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen aufstellte, erschien Rousseau wieder unter den Preisbewerbern, doch ohne äußeren Erfolge; seine Schrift erhielt nicht den Preis, sie erlangte aber eine tiefeinschneidende geschichtliche Bedeutung: denn gerade diese Schrift wurde, als die Asche des Autors unter den Unsterblichen im Pantheon lag, das Evangelium und der Kanon der französischen Revolution.

Der Ruhm, welchen Rousseau als Schriftsteller gefunden, kam dem „Notenschreiber“ zu statten; er fand Beschäftigung. Bald nahmen sich auch die Damen der Pariser Salons des berühmten Autors an, und eine der geistreichsten, Frau d’Epinay, lud ihn zu sich ein, in den Park ihres nahen Landhauses La Chevrette, wo sie ihm eine passende Wohnung zur Verfügung stellte. Hier lebte der „Einsiedler in der Eremitage“ mitten im Grünen, unter dem erquickenden Einflüssen der frischen Natur. Eine weichere Stimmung kam über ihn, und wie er die amuthigen Erinnerungen seines Lebens niederschreiben wollte, gewannen sie von selbst die Form eines Romans. Suchte ihn doch ein neues Abenteuer in seiner Einsiedelei auf: hoch zu Pferde erschien die Gräfin d’Houtetot, eine Schwester des Herrn d’Epinay, vor seiner Einsiedelei. Er kannte die Dame schon; jetzt wurde ihr Verkehr ein inniger: die Gräfin, keine Schönheit, doch interessant und anmuthig von Gestalt, gewann bald seine leidenschaftliche Liebe. Sie selbst besaß einen Liebhaber in dem Marquis von Saint-Lambert, welcher, von dem Abenteuer der Gräfin benachrichtigt, diese alsbald zur Rede stellte. Die Folge davon war, daß sie Rousseau gegenüber sich immer kühler und ablehnender verhielt und das Verhältniß allmählich sich löste. Der Philosoph machte Frau von Epinay dafür verantwortlich; es kam zu einem Bruche, und auch mit Grimm und Diderot. Rousseau bezog jetzt ein ärmliches Gartenhaus in dem nahen Montmorency, wo er seine Schrift gegen das Theater verfaßte und seinen Roman: „Die neue Heloise“ vollendete. Der Gegner des schöngeistigen Treibens der Bühne erschien selbst als schöngeistiger Schriftsteller auf anderem Gebiete. Dieser Roman war weder reich an Erfindung, noch eigentlich spannend in seinem Inhalt, er nahm die Verwicklungen unseres socialen Lebens nicht in sich auf; am wenigsten zeigte sich in demselben eine humoristische Ader. Aber ein heißer Odem der Leidenschaft durchwehte ihn; die Freigeisterei der Liebe sprach aus ihm mit schwunghafter Beredsamkeit; die stimmungsvollsten Natur- und Landschaftsbilder vom Genfer See waren in das Seelengemälde mitverwebt, und der Stil selbst war melodisch und von wahrhaft classischem Adel. So konnte es nicht fehlen, daß das Werk großes Aufsehen erregte und auf die späteren Liebesromane eines Chateaubriand, einer Staël bestimmend einwirkte.

Der Marschall von Luxembourg, Besitzer der Herrschaft von Montmorency, lud den berühmten Einsiedler zu sich auf sein Schloß oder vielmehr auf ein im Park befindliches Schlößchen ein. Hier verkehrte Rousseau mit der vornehmen Gesellschaft; die Marschallin selbst bewies ihm stets warme Theilnahme. Mitten unter den Huldigungen der französischen Aristokratie schrieb Rousseau (1762) den verhängnißvollen „Contract social“ welcher gleichsam über das ganze ancien régime das Todesurtheil sprach, und seinen „Emile“ ein Werk, welches zuerst die Theilnahme der französischen Welt auf die bisher gänzlich vernachlässigte Erziehung lenkte und auf alle späteren pädagogischen Systeme den wichtigsten Einfluß ausübte. Das Glaubensbekenntniß, das er im „Emile“ dem Vicar in den Mund legt, wurde eine der Grundlagen jener deistischen Weltanschauung, welche in Frankreich zur Herrschaft kam und noch in dem Feste, das Robespierre dem „être suprème“, dem höchste Wesen, feierte, einen großartigen volksthümliche Ausdruck fand. Und wie er hier den reinen Deismus proclamirt, so im „Contract“ die reine Demokratie. Diese Offenbarungen schöpfte er als Gast eines hocharistokratischen Hauses im Schatten der alten Bäume des Parkes von Montmorecey; im Lärm und Tumult einer wildberauschten Pariser Volksmenge traten sie in’s Leben. Die Politik unseres Jahrhunderts steht noch unter ihrem Zeichen: nur ist es nicht mehr das Zeichen der Revolution; die Plebiscite des dritten Napoleon und der Appell des Fürsten Bismarck an das allgemeine Wahlrecht sind Huldigungen, welche dem Rousseau’schen Princip der Volkssouverainetät zu Theil geworden sind.

Es begann jetzt für den Schriftsteller eine Zeit der Verfolgungen. Er begab sich nach Yverdun in der Schweiz. Am 11. Juni 1762 wurde der „Emile“ in Paris auf Befehl des Parlamentes verbrannt; der Genfer Rath folgte am 19. Juni diesem Beispiele; vor dem Rathhause wurden die Blätter des „Emile“ durch Henkershand verbrannt. Auch der Berner Rath ließ ihm den Befehl zugehen, Yverdun zu verlassen. Er suchte eine Zuflucht im Canton Neuenburg, wo er hoffen durfte, unter dem Schutze des freisinnigen Königs von Preußen sicher zu sein. In der That fand er hier einen Anhalt an Lord Keith, dem damaligen Gouverneur von Neuenburg, obschon das Collegium der dortigen Pfarrer und der städtische Magistrat gegen seine Anwesenheit protestirten. In Motiers, einem Flecken im schönen Val de Travers, ließ sich der Flüchtling nieder, verkehrte mit dem orthodoxen Pfarrer des Ortes auf’s Freundlichste und nahm sogar an der öffentlichen Communion Theil, was ihm seine philosophische Freunde sehr verdachten. Von einem befreundeten Arzte, Dr. d’Ivernois, ließ er sich in die Botanik einweihen und wurde von jetzt ab ein eifriger Pflanzensammler. In seiner Zurückgezogenheit suchte ihn zahlreiche Fremde auf; noch größer war die Zahl der Zuschriften, die er empfing; besonders wandten sich angehende Schriftsteller und Dichter an ihn, sowie Eltern, welche wegen der Erziehung ihrer Kinder ihn um Rath angingen. Auch als Schriftsteller feierte er nicht: hier, aus der Idylle des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_442.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)