Seite:Die Gartenlaube (1878) 438.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

allerlei Gefährt heran und hatte allmählich eine kleine, schwer zu entwirrende Wagenburg gebildet – leichte Schweizerwägelchen, die einem Wirth oder Müller der Umgegend angehörten, schwerere, altväterliche Landkaleschen, aus denen ein paar geistliche Herren gestiegen kamen, bekränzte Leiterwagen, auf denen die fröhliche Jugend einer entfernteren Hofmark zusammengepfercht war.

Es war kaum durchzukommen: das fühlte auch eine kleine Gesellschaft von Fußwanderern, welche bestaubt, mit von Hitze und Anstrengung gerötheten Gesichtern und dem Anscheine nach auch ziemlich ermüdet die Landstraße daher kam und mit zusammengerafften Kräften dem Wirthshause als dem Hafen ersehnter Rast und Erquickung zustrebte. Glücklicher Weise waren damals die Straßen noch nicht wie jetzt mit Vergnügungswanderern und Sommerfrischlern besetzt. Das Erscheinen derselben war gewissermaßen noch eine Seltenheit. Die Neugier der Herumstehenden war daher nicht ungern bereit, dem freundlichen Wunsche der Wanderer um freie Bahn stattzugeben und eine kleine Gasse zu bilden, um so mehr als dieselben durch ihr ganzes Auftreten einen feinen, unverkennbar städtischen Eindruck machten.

Die Gesellschaft bestand aus drei Personen, einem von Kopf bis zum Fuß in grauen Sommerstoff gekleideten älteren Herrn, der, als er den Strohhut lüftete, um sich den Schweiß abzutrocknen, eine würdige hohe Stirn und ein ernstes, aber wohlwollendes Antlitz erblicken ließ, welches mit dem kurzgeschorenen Haar, dem weißen Schnurr- und Knebelbart einem alten Soldaten oder Forstmann angehören mochte. Eine Art leichter Jagdtasche hing ihm über die Schultern; ein bequemer Schirm, der zugleich als Stütze dienen konnte, war über den Rücken gebunden. Ihm ganz ähnlich in der Erscheinung war der junge Mensch, der hinter ihm heranschritt, offenbar der Sohn und das getreue Ebenbild des Vaters, wie eben die Jugend dem Alter zu gleichen vermag; er war wie mit dem Storchenschnabel im verkleinerten Maßstabe nachgezeichnet, und es fehlte nur die Modellir- und Bossirarbeit von einigen Jahrzehnten, um die Aehnlichkeit zum Spiegelbilde zu steigern. Im Anzug waren sie dagegen völlig verschieden. Der Jüngling, der wohl zum ersten Mal den Bergen und ihren Herrlichkeiten nahe kam, war bereits vollständig für alle Mühen und Fährlichkeiten gerüstet, denen er entgegenging. Eine graue, grüngestickte Lodenjoppe hing lose um seinen Leib; die Beine steckten in massiven schwerbenagelten Bergschuhen, der Kopf in einem niederen runden Hütchen mit Edelweiß, Gemsbart und Adlerflaum – der grobe grüne Rucksack, der ihn trotz seiner Schlankheit mächtig überragende Bergstock, mit dem er sich abschleppte, vollendeten das Bild des Bergbesteigers in bester Form.

Ein Mädchen, das, wie in tiefe Gedanken verloren, in einiger Entfernung folgte, vollendete das Dreiblatt, wenn man nicht etwa noch den schneeweißen Spitzhund von der echten, jetzt gleich den Steinböcken ausgestorbenen Art dazu rechnen will, der, von dem Gedränge und Stimmengewirr aufgeregt, bellend und wedelnd von dem einen der Reisenden zu dem anderen sprang, als wolle er sich Raths erholen, ob es nicht gerathen sei, zum Angriff überzugehen.

Das Mädchen war nicht eben eine Schönheit zu nennen, aber in ihrer ganzen Art und Weise, in ihrer Haltung, selbst im Gange gab sich etwas Gewinnendes und Einschmeichelndes kund, sodaß ein paar Bäuerinnen, welche bei Seite traten, um sie hindurch zu lassen einander anstießen und sich zumurmelten:

„Du, das Dirn’l schau’ an! Die ist einmal sauber.“

„Hast schon Recht,“ war die ebenfalls geflüsterte Antwort. „Nur ein bissel mehr Farb’ sollt’ sie haben; sie ist ja schier so bleich, als wenn sie keinen Tropfen Blut im Leib’ hätt’.“

Die schlichten Bäuerinnen hatten ganz richtig beobachtet. Die ungewöhnliche Blässe war es, was der ganzen Erscheinung Eintrag that und beim ersten Anblick sogar befremdete; sie lag über dem Mädchen wie ein Schleier, den eine noch nicht völlig gehobene Krankheit oder ein noch unvergessenes tiefes Seelenleid über sie gebreitet hatte. Zu letzterem Gedanken stimmten die dunklen, ebenfalls wie von Schwermuth überhauchten Augen und auch die Kleidung ließ einen Zug von Schwärmerei erkennen. Unter dem breitrandigen, mit einem Kranz lebender Feldblumen geschmückten Strohhute fiel – eine damals ungeheuerliche Erscheinung – das reiche braune Haar aufgelöst auf Brust und Nacken herunter, während das einfache Kleid in eigenthümlicher Weise gefaltet und zum Zwecke der Fußwanderung aufgeschürzt war. Was an dem Bilde noch fehlte, vollendete die über die Schultern geworfene Zeichnungsmappe mit Farbkasten und kleinem Feldsessel; wie der Bruder die Ergebnisse seiner Bergwanderungen im der giftgrünen Botanisirbüchse, die er sich umgehängt hatte, zu sammeln gedachte, sann die künstlerische Schwester darauf, ihre Zeichnungs- und Malstudien wohlbehalten mit in die Heimath zurückzubringen.

Aus der allgemeinen Bewegung der Menge hatte der Wirth entnommen, daß irgend besondere Gäste eingetroffen sein mußten; er trat daher den Ankömmlingen schon auf der Schwelle des Hauses entgegen – ein echtes Bild alt-patriarchalischer Gastlichkeit, in Hemdärmeln, die blendendweiße Brustschürze über der rothen Weste, die grünsammtene Schlegelhaube zum Gruße mit einer Miene schwenkend, welche keinen Zweifel darüber ließ, daß der Gast auch wirklich ein willkommener war; eine Art von Wirth, wie sie inzwischen auch ausgestorben ist, gleich den Steinböcken und den Spitzen.

„Wünsche wohlauf zu leben,“ sagte er und bot dem alten Herrn die Hand, in welche dieser sofort einschlug. „Das ist schön von Ihnen, daß Sie uns auch einmal heimsuchen. Grüß’ Gott, Alle mit einander!“

„Grüß’ Gott hinwider!“ erwiderte dieser, „es freut mich, wenn wir willkommen sind. Ich fürchtete schon, bei der großen Menschenmenge, die hier versammelt ist, würde für uns kein Plätzchen übrig und kein Bissen mehr vorhanden sein; ich sehe, auch in den beiden Zechstuben summt es wie in einem schwärmenden Bienenstock.“

„Kein Platz übrig und kein Bissen vorhanden?“ rief der Wirth. „Das könnt’ mich freuen; das giebt’s nicht beim Wirth in Flintsbach. Die Bauern sind schon einmal so – die sind immer am liebsten dabei, wenn sie in der Stuben und recht dick auf einander sitzen können: sie sind sich halt unter der ganzen Woch’ genug in der freien Luft, aber hinter’m Haus ist der Obstgarten; da ist Platz genug; da ist’s schattig und kühl und eine Aussicht, wie von einem Kirchturm. Da wird’s Ihnen gewiß gefallen – so gut, daß Sie gar nimmer fort mögen.“

„Das Bleiben wird nicht angeh’n,“ sagte der alte Herr, indem er mit Sohn und Tochter durch die breite Hausflur dem Garten zuschritt; „wir wollen heute noch Andorf erreichen und werden uns zeitig wieder auf den Weg machen müssen, wenn wir uns ein wenig erfrischt und ausgeruht haben werden.“

„Ach nein, das dürfen Sie uns nicht anthun,“ entgegnete der Wirth. „Weil Sie jetzt einmal da sind, müssen Sie schon da bleiben und unsere Festivität mit anschau’n. Morgen ist auch ein Tag und Andorf läuft Ihnen nicht davon.“

„Und was ist denn für eine Festivität, daß sich eine solche Volksmenge versammelt?“

„So? Das wissen Sie gar nicht?“ rief der verwunderte Wirth. „Und ich hab’ mir eingebildet, Sie wären eigens deswegen gekommen. Sie müssen wissen, daß bei uns von Alterszeiten her die Leut’ keine größere Freud’ und kein lieberes Vergnügen kennen, als das Komödi-Spielen. Ueberall haben sich früher die jungen Leut’ zusammen gethan und haben ein paar Mal im Jahr’ gespielt, lauter schöne und fromme Sachen, von der heiligen Afra und vom heiligen Georg mit dem Drachen, daß Alles seine Erbauung gehabt hat und sein Vergnügen und seinen Verdienst obendrein. Aber die gescheidten Herrn drinnen in München, die Alles besser wissen wollen, haben gemeint, wir thäten damit zu viel Zeit versäumen. Wir sollten lieber arbeiten, haben sie gesagt, und es wär’ auch nicht recht, wenn man so Spott treiben thät’ mit den heiligen Sachen; so haben sie das Komödi-Spielen verboten, und so haben wir nimmer spielen dürfen volle achtzehn Jahr’ …“

Der Wirth hielt inne, wie von einem Gedanken überrascht, und sah den alten Herrn bedenklich von der Seite an. „Ich weiß nicht,“ sagte er dann, „Sie sind vielleicht auch Einer von denen, die in der Stadt drinn’ sitzen und uns heraußen auf dem Land’ die Schuh anmessen wollen – aber es macht nichts; jetzt ist es ja doch vorbei mit dem Verbieten und Schuh-Anmessen. Jetzt geht ein anderer Wind; jetzt dürfen wir wieder spielen, und heut’ ist die erste Vorstellung, und drum ist die ganze Gegend auf der Fahrt und will das neue Spiel seh’n.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_438.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)