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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ausnahme Einzelner, jene traurige Hülflosigkeit alsbald zu Tage kommen. Jeder dieser Männer wird empfinden, daß der Agitator mit seinen kecken Behauptungen Unrecht hat, aber eine schneidige Antwort wird sich aus ihrem auf diesem Felde ganz ungeschulten Denkvermögen nicht loszuringen vermögen. In der Regel wissen sie nicht einmal, wo sie den Hebel anzusetzen haben, um den Gegner aus seiner Position zu bringen.

Wir werden im weiteren Verlaufe unserer Darlegungen auf diese äußerst wichtige Thatsache zurückkommen.

Zuvor müssen wir indessen einen Scheidungsproceß vornehmen und die Begriffe „Sociale Frage“ und „Socialdemokratie“ streng von einander trennen, da das große Publicum durch fortwährende Vermischung dieser beiden sehr verschiedenen Dinge die Entscheidung erschwert und die ganze Angelegenheit sehr erheblich verwirrt hat.

Die sociale Frage will die Aufgabe lösen, den ärmeren Volksschichten eine möglichst menschenwürdige Existenz zu sichern. Wir sagen „möglichst“, denn eine absolute Lösung dieser Aufgabe ist unmöglich, und wenn ein Gott vom Himmel niederstiege, er wäre nicht im Stande, sie herbeizuführen, es sei denn, er kehrte alle Voraussetzungen des menschlichen Daseins um. Möglich dagegen ist in der Folge der Zeiten eine annähernde und verhältnißmäßige Lösung, wenn jede Generation mit gutem Willen das Ihrige dazu beiträgt. An diesem guten Willen zu wachsamem und durchgreifendem Wirken für das Wohl der ärmeren Classen hat es freilich in früheren Perioden selbst unserer neueren Geschichte vielfach gefehlt, und es fehlt auch gegenwärtig noch häufig daran gerade in denjenigen Kreisen, die in erster Reihe fühlen und erkennen müßten, daß die Gesellschaft ein Organismus und die Interessen aller ihrer verschiedenen Glieder solidarische, das heißt untrennbar zusammenhängende und so von einander abhängige sind, daß der eine Theil ohne Gesundheit und Gedeihen des anderen nicht gesund sein und gedeihen kann.

Mit diesem Begriffe der „socialen Frage“ darf aber die gegenwärtig überall besprochene socialdemokratische Frage in keiner Weise verwechselt werden. Denn die Socialdemokratie ist nichts Anderes, als eine Partei, welche in einseitiger Weise die absolute, das heißt also die unmögliche Lösung der socialen Frage verlangt. Die Systeme, welche sie dafür aufstellt, werden wir hier nicht erörtern, weil dieselben, wie wir dies weiter zeigen werden, in Bezug auf die Bekämpfung der Socialdemokratie eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Dagegen kommt es bei einem Kampfe vor Allem darauf an, seinen Gegner und die Kraftentwickelung desselben genau kennen zu lernen. Um dies zu erreichen, wollen wir an diejenige Seite der Socialdemokratie anknüpfen, welche im Publicum die bekannteste ist – an ihre Eigenschaft als „Umsturzpartei“. Das deutsche Reich hat gegenwärtig zwei auf den Umsturz des Bestehenden hinarbeitende Parteien aufzuweisen, die ultramontane und die socialdemokratische, aber meist wird bei dem Gemeinsamen dieses Charakterzuges der gewaltige Unterschied übersehen, welcher zwischen beiden besteht.

Das Auftreten des Ultramontanismus ist im Grunde nichts Anderes, als das letzte verzweifelte Zucken und Umsichschlagen eines sterbenden Organismus, der einst furchtbarer Kraftentwickelung fähig war. Je langsamer dieser Sterbeproceß sich innerhalb einer Nation vollzieht, desto mehr wird sie, den anderen Völkern gegenüber, an Widerstandskraft im Kampfe um’s Dasein einbüßen – aber der Proceß geht dennoch vor sich mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes; jede neue Schulstunde, jede neue Eisenbahnschiene entzieht jener mittelalterlichen Welt mehr und mehr den Boden. Gerade entgegengesetzt verhält es sich mit der Socialdemokratie. Während der Ultramontanismus im Widerstreit gegen die Mächte, welche unsere Zeit bestimmen, zu Grunde geht, sind es gerade diese Mächte, aus welchen die Socialdemokratie Leben schöpft.

Dem Auge des Bürgers erscheint die Socialdemokratie wie ein plötzlich auftauchendes Gespenst, wie etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes, das zum ersten Male die Hand nach seinen wohlerworbenen Gütern ausstreckt. Diese Auffassung ist jedoch durchaus falsch, denn ganz dieselben Anschauungen, welche den Socialismus unserer Tage charakterisiren, haben sich schon früher, in der alten Geschichte sowohl, bei Griechen wie Römern, wie auch in der neueren, zur Zeit der Reformation, geltend gemacht. Zum Theil tritt der Socialismus als eine Folge der geschichtlichen Entwickelung des betreffenden Staates auf, sei es, daß die Einrichtungen desselben wiederholt einen Umsturz erfuhren, oder daß das demokratische Princip zu einer nicht organisirenden und erhaltenden, sondern zersetzenden Geltung gelangte, Erscheinungen, wie sie namentlich im Alterthum dem Socialismus zu Grunde lagen und in Verbindung mit diesem den Untergang des Staates herbeiführten. Für unsere deutschen Verhältnisse sind diese Momente von geringer Bedeutung, indem der Germane, von dem Heine sagt, daß er den Strom der That mit prüfendem Fuße betritt, mehr der Reform zuneigt, während bei den Romanen der Hang zur gewaltsamen Durchführung reformatorischer Ideen, zur Revolution vorherrscht. Wir beobachten letzteres besonders an Frankreich, das sich ja seit hundert Jahren gleichsam in einer chronischen Revolution befindet und wo dieser Zustand für die Aufrechterhaltung des Socialismus eine verhängnißschwere Rolle spielt.

Andrerseits aber – und das ist es, was speciell für unsre Verhältnisse in Betracht kommt – ergeben sich Hauptfäden zum Gespinnst des Socialismus aus solchen Gestaltungen, welche der Culturgang mit Nothwendigkeit hervorgerufen hat und die an sich selber segensreich sind. Zu diesen Gestaltungen gehört, als die für uns hier wichtigste und alle anderen überragende, die starkgegliederte Arbeitstheilung. Der schroffe Gegensatz zwischen Armuth und Reichthum ist für die Förderung socialitischer Ideen bei Weitem nicht so bestimmend wie jene Theilung der Arbeit. Denn erstens ist, mit wenigen Ausnahmen, in den heutigen Culturstaaten der gesunde Mittelstand ein breites Uebergangsgebiet zwischen beiden Gegensätzen, und ferner ist die bloße Begehrlichkeit allein nicht im Stande auch den Besseren und Besonneneren so mit fortzureißen, wie es die Logik eines ruhigen Gedankenganges vermag, wenn derselbe erst einmal bei der Frage angelangt ist: wie kommt es, daß der Arbeiter den ganzen Tag sich um einige Groschen müht, während der Banquier im Handumdrehen eben so viele Tausende von Mark durch eine Fahrt nach der Börse verdient? Diese Unterschiede des Arbeitsertrages, die auf der Arbeitstheilung basirt sind, vermag der Arbeiter nicht zu vereinigen; die hier wirkenden Kräfte und Verhältnisse vermag er nicht zu übersehen; es erscheint ihm wie ein schreiendes Mißverhältniß, und das ist die Lücke seines Denkens, in welche die socialistische Idee ihren Samen wirft. Die Arbeitstheilung aber ist eine der wichtigsten Voraussetzungen menschlicher Production in der Gegenwart wie Zukunft, und um deswillen sagten wir, der Socialismus unterscheide sich dadurch vom Ultramontanismus, daß er seine Lebenskraft aus Bedingungen schöpft, welche an sich für das Leben des Volkes nothwendig sind und es bleiben werden.

Der oben gezeigte Umstand, daß der Socialismus niemals selbstständig erscheint, sondern stets in Zusammenhang mit ungesunden Staatszuständen oder als üble Kehrseite von an sich nützlichen Einrichtungen, – dieser Umstand drückt ihm den Charakter einer socialen Krankheit auf. Es ist dies eine durchaus zutreffende Bezeichnung für ihn, und wir halten sie fest, da sie uns zugleich auf den Weg führt, der zur Bekämpfung des Socialismus in erster Linie eingeschlagen werden muß. Dabei wird es sich zeigen, daß der bisher verfolgte Weg ein falscher gewesen ist.

Was würde der Leser von einem Arzte sagen, der zu einem Fieberkranken gerufen wird und weder dessen Puls untersuchte, noch überhaupt nach dem Sitz des Uebels forschte, sondern blos auf die Ideen eingehend, welche der Kranke in seinen Phantasien äußert, mit Gründen der Vernunft und Logik sie beantworten und dadurch Heilung erzielen wollte? – Genau so aber verhält es sich mit der Taktik, mit welcher man dem Socialismus entgegenzutreten pflegte, in der Presse sowohl, wie anderweitig. Die Phantasie von Gütergemeinschaft, Enteignung des Capitals, Staatsverwaltung, kurz den ganzen Unsinn, den der Communismus hervorbringt – diese Phantasien wollte man durch „Belehrung in der Presse sowohl, wie durch private Thätigkeit“, durch „Vereine“ etc. bekämpfen; in dieser Richtung bewegte sich wenigstens bisher der im Bürgerthum erwachte Drang, etwas gegen die sociale Gefahr zu thun. Dabei übersah man jedoch gänzlich, daß man auf diesem Wege zu einem Kampfe gegen Windmühlen ausrückte, indem hier die beiden unerläßlichen Vorbedingungen eines Erfolges fehlten: erstens, daß der Arbeiter belehrt werden will und zweitens, daß er belehrt werden kann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_410.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)