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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


nehmen, um hinauszugelangen?“ fragte er. „Ich kam in einiger Eile und habe nicht auf den Weg geachtet.“

„Ich werde Sie begleiten,“ sagte Moser artig. „Man verirrt sich nur allzu leicht in diesen weitläufigen Gängen und Corridoren, wenn man sie nicht genau kennt. Ich zeige Ihnen den Hauptausgang.“

Doctor Brunnow, der in der That den Weg nicht mehr zu finden wußte und dem es durchaus nicht wünschenswerth war, sich in den Gängen und Höfen zu verirren, nahm das Anerbieten an, und sie schritten zusammen durch den Corridor. Dieser verband den Seitenflügel, in welchem die Moser’sche Wohnung lag, mit dem Hauptgebäude und führte direct in das Vestibül des Schlosses. Dort lagen die Eingänge zu der Kanzlei und den übrigen Bureaux, und dort mündete auch die große Haupttreppe, welche zu der Wohnung des Gouverneurs führte. Die beiden Herren traten soeben aus dem halb dunklen Corridor in das hell erleuchtete Vestibül, als Brunnow auf einmal zusammen zuckte und eine jäh zurückweichende Bewegung machte. Es schien fast, als wolle er umkehren, aber es war zu spät – er und sein Begleiter standen bereits dicht vor dem Gouverneur.

Der Freiherr schien soeben erst angelangt zu sein, draußen am Portal hielt noch sein Wagen, und er selbst sprach mit dem Polizeidirector, der im Begriff stand, sich zu verabschieden. Raven’s Stirn war finster umwölkt; sie erhellte sich indeß flüchtig, als er den Hofrath erblickte. Sein Gespräch unterbrechend, fragte er mit offenbarer Theilnahme:

„Ist es denn wahr, Herr Hofrath, was mir Doctor Berndt berichtet? Der junge Doctor Brunnow soll gänzlich außer Gefahr sein. Nach den früheren Nachrichten hat mich das vollständig überrascht.“

„Ich bin nicht weniger davon überrascht worden als Excellenz,“ versicherte der Hofrath. „Ich wollte es anfangs nicht glauben, aber es wird mir noch von anderer Seite bestätigt, hier durch Herrn Doctor Franz, der mit dem Kranken befreundet ist und soeben von ihm kommt.“

Raven wandte sich zu dem seitwärts Stehenden, den er bisher nicht beachtet hatte und auf den jetzt das volle Licht des großen Treppencandelabers fiel. Einige Secunden lang stand der Freiherr starr, wie an den Boden gewurzelt, und sein Auge bohrte sich tiefer und tiefer in das Antlitz des Fremden. Dann flog ein ein jähes Erbleichen über seine Züge, und seine Lippen preßten sich zusammen, als müßten sie den Aufruf verschließen, der sich aus ihnen emporringen wollte.

Raven’s Fassungslosigkeit dauerte freilich kaum eine Minute; schon in der nächsten hatte er seine ganze Selbstbeherrschung wieder, und eine Bewegung des Polizeidirectors erinnerte ihn schnell genug daran, daß er beobachtet wurde. Er ließ den Hofrath ruhig ausreden und wandte sich dann an dessen Begleiter.

„Es wäre mir lieb, auch von Ihnen die Bestätigung zu hören,“ sagte er. „Ich hatte dem Patienten meinen Hausarzt gesandt, der Medicinalrath erkrankte aber schon am ersten Tage der Behandlung, und so mußte sein Assistent sie übernehmen. Der Bericht, den Doctor Berndt mir heute Morgen abstattete, war indeß so unklar, daß ich Sie um eine Ergänzung ersuchen möchte. Begreiflicher Weise nicht hier im Treppenflur; ich bitte Sie auf einige Minuten bei mir einzutreten.“

Brunnow war es weniger gewohnt, seine Empfindungen zu unterdrücken, als der Freiherr, und wenn es ihm auch gelang, Gesicht und Stimme einigermaßen zu beherrschen, den Blick beherrschte er nicht. Seine Augen hafteten glühend, mit einem Gemisch von Haß und Schmerz auf dem Redenden, als er entgegnete:

„Interessiren Sie sich so sehr für den jungen Arzt, Excellenz?“

„Allerdings. Ich und der Herr Polizeidirector –“ Raven legte einen leisen, aber doch merklichen Nachdruck auf das Wort, während er auf den Genannten wies – „wir sind ihm beide verpflichtet. Sie kennen vermuthlich den Anlaß seiner Verwundung; er erlitt dieselbe bei Ausübung seiner ärztlichen Pflicht, als er den Untergebenen dieses Herrn zu Hülfe eilte. Sie begreifen daher wohl, daß mir eine ausführlichere Auskunft über seinen Zustand erwünscht ist.“

Brunnow verstand den Wink; er sah die klugen scharfen Augen des Polizeidirectors, der scheinbar ganz absichtslos und ruhig zuhörte, aber ihn und den Freiherrn unverwandt beobachtete, und begriff die ganze Gefahr seiner Lage. Trotzdem zögerte er noch einen Moment lang und schien mit sich selber zu kämpfen.

„Ich stehe zu Diensten,“ sagte er endlich kurz.

„So bitte ich, mich zu begleiten.“ Raven wandte sich mit einigen flüchtigen Abschiedsworten an die beiden anderen Herren und stieg dann mit dem Arzte die Treppe hinauf, die zu seiner Wohnung führte.

(Fortsetzung folgt.)




Die Socialdemokratie und die Schule.

„So kann es nicht bleiben; es muß etwas gethan werden!“ In allen Orten und Gegenden, in den verschiedensten Parteien und Classen unseres Vaterlandes war dieser Nothruf seit einiger Zeit das vorherrschende Stichwort des Tages geworden. Immer bestimmter erhob er sich in den Reihen der Conservativen wie der Liberalen, und immer dringender und angstvoller tönte er neuerdings selbst aus jener schwerfälligen Masse sogenannter friedlicher Bürger, die endlich gleichfalls aus ihrer Ruhe aufgescheucht und in Bewegung gerathen waren ob der gemeinsamen Gefahren, mit denen die sogenannte Socialdemokratie die Sicherheit unseres Daseins, das Glück unserer Zukunft bedroht. Und nun ist das selbst für die Schwarzsehendsten doch noch Unerwartete geschehen: mitten aus dieser Socialdemokratie heraus, jedenfalls von ihrem Geiste vollgesogen, haben in dem kurzen Zeitraume von drei Wochen zwei Menschen zum Mordversuche auf unsern Kaiser, auf den geliebtesten und verdientesten Monarchen Europas, das Herz gefunden. Ja wohl, die Gefahr ist da; aus unscheinbaren Anfängen ist sie binnen Kurzem so riesig emporgewachsen, daß kein Unverblendeter sie hinwegleugnen und gleichgültig vor ihr die Augen verschließen kann. Wohin wir den Blick wenden, überall flammt sie uns aus Mienen und Worten, aus Handlungen und Bewegungen entgegen, überall hat sie den Verhältnissen die Merkmale der Verwilderung und gesellschaftlichen Wirrniß aufgeprägt. Wie sollte die Unhaltbarkeit eines solchen Zustandes nicht der überwiegenden Menge besonnener Zeitgenossen sich fühlbar machen, nicht in ihnen die Ueberzeugung wecken, daß hier wirksam eingegriffen und Wandel geschafft werden muß?

Es muß etwas gethan werden! Gewiß, wir haben alle Veranlassung zu dem Glauben, daß der Alarmruf ein ernstgemeinter ist und aus der Tiefe der bedrängten Seelen kommt. Hätte man aber die Rufer beisammen und wollte die ersten Schritte zur Ausführung ihres Entschlusses mit ihnen besprechen, so würde sich bei dieser Erörterung, zu allgemeiner Ueberraschung und Beschämung, eine vollständige Hilflosigkeit der Urtheile bei der Beantwortung der Frage herausstellen: was denn nun eigentlich zur Bekämpfung der socialdemokratischen Unterwühlung unseres Staats- und Gesellschaftsbodens gethan werden soll? „Gewaltmaßregeln!“ ruft das leicht erregte, auf’s Tiefste empörte öffentliche Gefühl. „Nein,“ sagen die sorglichen Wächter unserer politischen Freiheiten, „energische Handhabung der bisherigen Gesetze, Selbsthülfe, im uebrigen Ueberwindung der Socialdemokratie mit geistigen Mitteln.“ Dauernd hilft ohne Zweifel nur das Letztere, und doch ist gerade auf diesem Punkte die Rathlosigkeit selbst bei der Mehrzahl der Gebildeten eine vollständige. Denn hinsichtlich der für den ersten Blick wichtigsten Bedingung eines erfolgreichen geistigen Einwirkens, der Kenntniß wenigstens der elementaren volkswirtschaftlichen Begriffe, stehen selbst die höchstgebildeten Classen auf keiner besonders höheren Linie, als die mindergebildeten, natürlich mit Ausnahme Derjenigen, die sich durch eigenes Studium auf dem betreffenden Gebiete umgesehen und orientirt haben. Möge einmal der Versuch gemacht und ein socialdemokratischer Agitator herbeigerufen werden, der sein Sprüchlein gut auswendig kann und das erforderliche freche Mundwerk besitzt! Stelle man demselben Leute gegenüber, von denen es feststeht, daß sie eine vorzügliche „allgemeine Bildung“ besitzen – vielleicht aus der Gattung der Universitätsprofessoren oder intelligenten Künstler – und es wird, natürlich immer mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_408.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)