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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Mir haben diese letzten vierundzwanzig Stunden mit ihrer Todesangst gezeigt, was es heißt, das Einzige zu verlieren, was mir von allen Lebenshoffnungen und Lebensfreuden noch übrig geblieben ist. Klage Dich nicht an! Auch ich bin oft ungerecht gegen Dich gewesen und habe es nie begreifen wollen, daß Deine Natur so ganz anders geartet ist, als die meinige. Ich denke aber, diese Stunde hat Dir trotz alledem gezeigt, was Du Deinem Vater bist. – Werde mir nur gesund, dann ist ja Alles gut.“

Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf die Stirn des Sohnes, eine Zärtlichkeit, die seit langer, sehr langer Zeit nicht mehr zwischen ihnen üblich war. Max hatte seit seinen Knabenjahren kaum jemals eine Liebkosung des Vaters empfangen, und er erwiderte sie jetzt mit der wärmsten Herzlichkeit.

„Du sollst in Zukunft nicht mehr über den Starrkopf, den Realisten zu klagen haben,“ sagte er leise. „Ich vergesse es nie, Papa, was Du um meinetwillen gewagt hast. Jetzt aber versprich mir, auf der Stelle wieder abzureisen. Du hast Dich ja nun überzeugt, daß für mich keine Gefahr vorhanden ist, aber über Deinem Haupte schwebt sie fortwährend, so lange Du diesseits der Grenze bist. Ich bitte Dich nochmals, kehre zurück, sobald wie möglich!“

„Ich reise morgen, erklärte Brunnow, aber ich komme jedenfalls in der Frühe noch einmal, um Dich zu sehen. Keine Einwendungen, Max! Quäle Dich doch nicht mit nutzlosen Sorgen! Ich sage Dir ja, daß keine Entdeckung zu fürchten ist. Für jetzt freilich werde ich Dich verlassen. Du bedarfst dringend der Ruhe und hast Dich schon mehr aufgeregt, als für Deinen Zustand gut ist.“

„Pah, mir schadet das nichts; ich habe eine ausgezeichnete Natur,“ versetzte Max. Er dachte daran, daß er heute schon ohne allen Schaden eine erbitterte medicinische Fehde und eine Verlobung durchgemacht hatte, zog es aber vor, dem Vater für jetzt noch nicht von seinen Herzensangelegenheiten zu sprechen, und fuhr daher fort: „Du warst wohl nicht wenig überrascht, mich hier im Regierungsgebäude aufsuchen zu müssen?“

„Allerdings, und der Name des Hofrath Moser, der, wie ich höre, ein Beamter der Regierungskanzlei ist, war mir völlig unbekannt. Vermuthlich hast Du während Deines hiesigen Aufenthaltes die Bekanntschaft dieses Herrn gemacht und bist mit ihm befreundet?“

„Befreundet sind wir gerade nicht allzusehr,“ meinte der junge Mann in etwas trockenem Tone. „Dieser Hofrath ist ein wahres Prachtexemplar von Loyalität, das Ideal eines Bureaukraten. Er bekommt schon Nervenzufälle, wenn er nur das Wort ‚Revolution‘ hört, und wies mir gleich am ersten Tage unserer Bekanntschaft die Thür, weil ich einen staatsgefährlichen Namen trage.“

„Um so mehr ist es anzuerkennen, daß er Dich trotzdem in seinem Hause aufnahm. Wir sind ihm Beide tief verpflichtet. Leider kann ich ihm nicht persönlich danken –“

„Um des Himmels willen nicht! Er wittert alles Revolutionäre aus zehn Schritt Entfernung, und obgleich er Dich nicht kennt, würde sein Loyalitätsinstinct ihm untrüglich verrathen, daß ein Hochverräther in seiner Nähe ist.“

„Max, sprich nicht in solchem Tone von dem Manne, der Dir Aufnahme und Pflege gewährte!“ sagte Brunnow verweisend. „Du bist und bleibst der Alte. Bei alledem hast Du eine wahre Riesennatur, die wohl auch einen Erfahreneren als Deinen bisherigen Arzt in Erstaunen setzen kann. Wenn Deine Wunde auch nicht gerade das Leben bedroht, so ist sie doch immerhin ernst genug, um jedem andere Patienten die Lust am Sprechen vollständig zu vertreiben, und Du ergehst Dich in Malicen gegen Deinen Gastfreund.“

Max dachte bei sich selber, daß er die Aufnahme wohl anderen Einflüssen verdankte, als dem Willen des Hofraths, sprach das aber nicht aus, sondern trieb mit einer leicht begreiflichen Unruhe den Vater zum Gehen und zur größten Vorsicht. Doctor Brunnow, der selbst einsah, daß sein längeres Bleiben auffallen müsse, gab dem Wunsche nach. Er nahm eine kurzen herzlichen Abschied von seinem Sohne und ging dann.

Er war soeben im Begriff die Moser’sche Wohnung zu verlassen, als ihm draußen im Entréezimmer der Hofrath selbst entgegentrat. Er näherte sich ruhig dem Fremden und sagte dann in fragendem Tone:

„Herr Doctor Franz?“

Brunnow machte eine bejahende Bewegung. „Das ist mein Name – und ich habe wohl das Vergnügen, den Herr Hofrath Moser zu sehen?“

„Allerdings,“ versetzte dieser mit einer steifen Neigung des Hauptes. „Meine Tochter sagt mir, Sie seien Arzt und kämen im Auftrage des Doctor Berndt, und da möchte ich von Ihnen hören, ob es wahr ist, was die Frauen behaupten. Der Zustand des Patienten soll sich im Laufe des Tages bedeutend gebessert haben und Hoffnung auf Genesung geben. Nach den heutigen Auslassungen Ihres Herrn Collegen scheint mir das ganz unmöglich zu sein.“

„Die Gefahr ist in der That vorüber,“ sagte der Gefragte. „Ich zweifle durchaus nicht mehr an der Rettung des Doctor Brunnow. Er verdankt sie freilich zum großen Theil der schnellen und aufopfernden Hülfe, die ihm in Ihrem Hause zu Theil wurde. Sie hatten in den letzten Tagen manches Schwere deswegen durchzumachen.“

„Ja wohl, sehr viel Schweres!“ seufzte der Hofrath, der nicht recht wußte, ob er sich freuen oder ärgern sollte, daß der gefürchtete Todesfall von seinem Hause abgewendet war. Es war am Ende ebenso schlimm, wenn in den Zeitungen zu lesen stand: „Der Sohn des aus der Revolutionszeit her bekannten Doctor Brunnow ist in dem Hause des Hofraths Moser von seiner schweren Verwundung glücklich genesen.“ Brunnow dagegen blickte voll Theilnahme auf den alten Herrn, der so sichtbar gedrückt und bekümmert schien. Der Doctor wußte nichts von Agnes eigenmächtigem Eingreifen; er sprach das ganze Verdienst an der Pflege seines Sohnes dem Hofrath selbst zu, und nach den Andeutungen, die Max ihm über dessen Charakter gegeben, sah er in diesem einen Mann, der mit hochherziger Verleugnung seiner persönliche Ansichten und Sympathien einen politischen Gegner bei sich aufgenommen.

„Doctor Brunnow,“ sagte er mit der überströmenden Dankbarkeit des Vaterherzens, „wird hoffentlich bald im Stande sein, Ihnen selbst seinen Dank auszusprechen, aber auch ich, der ich ihm von früher her befreundet bin, möchte dies in seinem Namen thun. Ich – wir danken Ihnen, Herr Hofrath, von ganzem Herzen danken wir Ihnen für das, was Sie gethan haben.“

„Es war Christenpflicht,“ erklärte der Hofrath, sehr angenehm berührt von diesen Worten, die so deutlich die tiefste Empfindung verriethen. „Es wäre unter allen Umständen geschehen, aber man freut sich dennoch, wenn es von den Betreffenden in solchem Maße anerkannt wird.“

„Glauben Sie mir, wir erkennen es im vollsten Maße an!“ versicherte Brunnow mit Lebhaftigkeit. „Wir wissen es, was ein Mann in Ihre Stellung und von Ihren Grundsätze dabei zu überwinden hatte. Es war eine That der edelsten Selbstverleugnung.“ Damit streckte er, von seine Empfindung fortgerissen, dem alten Herrn die Hand entgegen.

Der arme Hofrath! Sein von Max so gerühmter Loyalitätsinstinct ließ ihn in diesem Augenblicke völlig im Stich. Keine innere Stimme warnte ihn, als er die Hand des Hochverräthers ergriff und freundschaftlich drückte. Es that ihm so wohl, endlich einen Menschen zu finden, der seine unglaubliche Aufopferung in dieser fatalen Angelegenheit nach Gebühr zu würdigen wußte, denn Agnes und Frau Christine thaten ja, als verstände sich die Sache von selbst. Dieser Fremde allein hatte das richtige Verständniß und gewann dadurch auf der Stelle das höchste Wohlwollen des Hofraths.

„Wollen Sie nicht auf einige Minuten in das Wohnzimmer treten?“ fragte er. „Ich würde mich freuen –“

„Ich danke,“ lehnte Brunnow ab, der sich jetzt erst erinnerte, daß er keine allzu große Dankbarkeit und Theilnahme zeigen durfte. „Ich kann unmöglich länger verweilen; mich ruft noch eine ärztliche Pflicht. Ich komme aber morgen früh noch einmal, den Patienten zu sehen, wenn Sie es gestatten.“

„Mit dem größten Vergnügen!“ rief der Hofrath. „Ich werde erfreut sein, Sie wiederzusehen – bitte, geben Sie Acht! Der Gang draußen ist nur unvollkommen erleuchtet.“

Er hatte dem Gaste selbst die Thür geöffnet, dieser aber blieb unschlüssig stehen.

Muß ich die Treppe zur Rechten oder die zur Linken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_407.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)