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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

wie ich war, gehorchte ich endlich. In der Kajüte Verwirrung und Aufregung – die Passagiere hielten sich fest umschlungen, sie stemmten sich auf dem Sopha mit den Füßen gegen die Wand, sie zitterten unter dem Rasen der Elemente.

Es kam die grauenvollste Nacht meines Lebens.

Ich saß neben Alwine in der Kajüte; fest und eng hatte sie sich an mich geschmiegt, fest wie ein Ertrinkender hielt ich sie umklammert. Da – großer Gott, was war das! Unter einzelnen Schreien der Schiffsmannschaft legte das Schiff sich auf die Seite, immer stärker, Alles rutschte vom Tische herunter, wir klammerten uns an, um nicht zu fallen, die Frauen schrieen laut, die Männer riefen durch einander. Jetzt richtete das Schiff sich wieder auf, dann legte, hob und neigte es sich von Neuem, tiefer als vorher, immer tiefer. „Wir kentern!“ durchzuckte es mich. Und die kalten Lippen auf einander gepreßt, den Todesschweiß auf der Stirn, schob, trug, führte ich die Geliebte durch den Saal und zur Thür hinaus. In der Finsterniß suchte ich mit den Augen nach den Booten – da winkte Jay von der Commandobrücke herab, wir sollten heraufkommen. Wir schleppten uns hin, mit seiner Hülfe kamen wir oben an. Er zeigte uns die Segel und den betrunkenen Capitain, der sie alle hatte aufsetzen lassen. Er zeigte uns die Lichter am Strande von Amerika, auf dessen Felsenbarrieren der wüthende Südoststurm uns zutrieb. Er zeigte uns die zerschlagenen Rettungsboote. „Der Capitain hat Recht,“ schrie er mir in’s Ohr, „alle Segel, oder wir sind verloren! Der Sturm treibt uns auf die Küste zu, wir müssen stechen und gegen den Wind segeln. Aber – wir – können – kentern.“ Und wieder neigte sich das Schiff, tiefer und immer tiefer, als wenn es unfehlbar umstürzen müßte.

Der betrunkene Capitain kam auf Deck. Er befahl, vor Allem die Segel des Hintermasts zu zerschneiden, damit das Schiff wenigstens etwas erleichtert würde. Matrosen stachen aus den Körben des Hintermastes ihre Messer hinein, und mit einem furchtbaren Rucke krachte ein Segel aus einander, dann wieder eins und dann ein drittes. Lautes Jammergeschrei im Speisesalon kündigte uns an, daß die armen Passagiere der Meinung seien, wir wären auf eine Klippe gerathen.

Wirr flatterten die Segelfetzen des Hintermastes in die rasend gewordene Finsterniß hinaus, und noch immer stöhnte und neigte sich der Mittelmast und mit ihm das Schiff, das, da der Sturm mit erneuerter Wuth wie zu einer letzten Anstrengung losgebrochen war, von Neuem immer gefährlichere Versuche machte, zu kentern. Schon rauschten die Wellen auf das Deck; schon tauchte das unterste Segel in’s Wasser, das man, um nicht ganz von Segeln entblößt zu sein, unversehrt gelassen hatte.

Da, im Augenblicke höchster Gefahr stieg Jay Robinson in die Strickleiter. Er warf uns einen Handkuß zu, gleichsam als wenn er sagen wollte, für welches Menschenleben er das seine wagte. Ich schrie nach ihm; ich winkte ihm heftig mit der Hand. Er hielt in einiger Höhe inne und klammerte sich an. Erwartend blickte er nach uns hinüber.

Alwine regte sich nicht, sie war starr vor Schrecken. Ich war außer mir. „Winke ihm, herabzukommen!“ rief ich. Noch immer sah sie aus wie ein Marmorbild. Nur leise, wie krampfhaft, zuckten ihre Lippen. Dann rang sich aus ihrer Brust die Bitte hervor: „Winke Du!“

Ich winkte wieder; allein Jay Robison achtete nicht auf mich, sondern schickte sich an, weiter hinauf zu steigen. Da brach Alwine in Thränen aus. Sich krampfhaft an dem Geländer der Commandobrücke anklammernd, riß sie ihr Taschentuch aus der Tasche und winkte mit demselben, während sie in flehendem Tone rief: „Kommen Sie doch herab!“ Der Sturm überbrauste ihre Worte, entriß ihr das Tuch und trug es in’s Meer, und Jay Robinson, der von der Scene kein Auge verwendet hatte, kletterte triumphirend in den Mastkorb hinauf. Sie weinte – weinte um seinetwillen: das war ihm genug. Jetzt wollte er für sie sterben.

Jay war oben. Mit der schrecklichsten Spannung meines Lebens verfolgte ich mit den Augen jede seiner Bewegungen. Krampfhaft sich an den Mast klammernd, versuchte er vom Mastkorbe aus, das Segel loszuschneiden – vergebens; er wollte es zerschneiden – es war ihm ganz unmöglich, es zu erreichen. Und schon neigte sich das Schiff tiefer und tiefer, als wollte es uns Alle hinabschütten in die See.

Jetzt griff Jay Robinson nach seinem Gürtel, zog ein Beil hervor und, frei stehend, hieb er mit wuchtigen Schlägen an der Windseite in den Mast hinein, um ihn zum Abbrechen zu bringen. Immer kräftiger holte er aus, immer wuchtiger fuhr die Axt in die splitternden Spähne – die Mastspitze krachte und senkte sich – ein Aufschrei, und die Axt entglitt Robinson’s Händen, er strauchelte und stürzte über den Rand des Mastkorbes jählings auf’s Deck hinab. Ihm folgte mit furchtbarem Krache der Mast, den der Sturm über Bord riß und die nächste Welle hinwegschwemmte.

Schwer athmend wurde Jay aufgehoben; gelähmt hingen die kühnen Glieder an seinem Körper herab; Blut quoll ihm aus dem bleichen Munde. Er ward in sein Bett gebracht, und der Arzt untersuchte ihn und schüttelte den Kopf.

Auf den Wellen trieb ein verstümmeltes, wrackähnliches Schiff umher; der Wind ließ endlich nach, die Wellen sanken mehr und mehr. Als der Morgen graute, sah er in ein kleines Gemach, in dem drei unglückliche Menschen sich befanden. Ein schwer Athmender lag darnieder, – ein Mann mit schmerzlichem Gesicht pflegte ihn und legte ihm kalte Umschläge auf Stirn und Brust. An dem Bette aber knieete ein Mädchen, auf dem Stuhle das Haupt in den Armen bergend, fast ohne sich zu regen.




„Geliebter, ich kann die Deine nicht werden; wir müssen uns trennen. Wie könnten wir jemals jene Nacht vergessen, wo er zum Krüppel ward? Wenn Du wüßtest, wie sehr ich mich Deiner unwürdig fühle! Wenn Du es mit empfändest, wie öde mein Herz geworden ist, – wie traurig! Glaube es mir, oder glaube es nicht, – ich habe mich erkannt, damals als ich an seinem Bett knieete und Du um mich gingst und die Hände regtest, um ihn zu retten, und als ich mich fragte: ‚Weshalb hilfst du nicht auch?‘ O Liebster, ich bin es, die ihn unglücklich gemacht hat!“

Ich las diese Zeilen in meiner Wohnung in New-York, und ich starrte wie betäubt auf die zierliche Unterschrift und auf das „Boston“ mit dem Datum daneben. Warum gab es keine Möglichkeit, sofort noch Boston zu gelangen, um ihr die krankhaft unglückselige Idee auszureden! Das also war der Grund, warum sie so scheu, so ängstlich sich aus meinem Arme wand, wenn ich nach dem Sturze Jay Robinson’s einmal die beglückende Gewißheit genießen wollte, daß sie mir und daß ich ihr gehöre! Das war der Gedanke, der sie bis in den innersten Nerv ihres Lebens erschütterte, – sie habe ihn unglücklich gemacht, durch ein frevelhaftes Spiel, das sie mit seinem Herzen getrieben, und darum hatte sie ihm das große Opfer gebracht, das uns in Boston getrennt hatte! Deutlich sah ich die Scene vor meinen Augen. Da saß er, kaum zur Hälfte genesen, in Decken gehüllt, auf dem zerbrochenen Radkasten, als das Schiff in Boston an der Rhede lag und wir das unglückliche Fahrzeug verließen. Und da summte er herzerschütternd jene englische Ballade, welche Alwine zuweilen gesungen:

„Und soll ich denn begraben sein,
Legt mich nicht ins dunkle Grab hinein,
Legt mich am Wasser auf feuchten Sand,
Laßt mich schlafen am wilden Meeresstrand.“

Alwine war leichenblaß geworden; sie zitterte an meinem Arme, blieb stehen und hielt mich zurück, und ihre Lippen zuckten als sie mich bat: „Gehe zum Bahnhof, – schiebe Deine Reise nicht auf, denn Du kannst es nicht länger; aber laß mich hier, laß mich zurückbleiben, – ich muß ihn pflegen, ich muß, – bis er todt oder gesund ist.“




Ich habe ihr geschrieben, wieder und wieder, und immer kam dieselbe Antwort: „Quäle mich nicht; es ist unmöglich.“ Nur aus einem der Briefe blitzte ein Hoffnungsstrahl. „Vielleicht spricht mein Gefühl anders, wenn Robinson genesen wird,“ lautete ein Postscriptum, „denn der Arzt hat Hoffnung.“ Und es gab ein paar Tage, wo ich zwischen Himmel und Abgrund schwankte, wie einst unser armes Schiff vor der Rhede von Boston.

Sie haben ihn nach einem Monat doch in das dunkle Grab hineingesenkt, und ich – ich habe ihn sterben sehen. Als es mit ihm zu Ende ging, rief Alwine mich brieflich an sein Schmerzenslager – er wollte mich noch einmal sehen. Seine rechte Hand in der meinen, die linke in derjenigen des schönen

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