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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Abschied von Ferney war traurig, die Bauern weinten, aber die Reise ging fröhlich von Statten und glich einem Triumphzuge. Ueberall unterwegs, wo die Leute Voltaire erkannten, brachen sie in Jubelrufe aus. Nach viertägiger Fahrt langte der altmodische Wagen mit seinen Insassen (am 10. Februar 1778) in Paris an, dessen Bevölkerung in eine eigenthümliche Bewegung gerieth, als die Kunde von dem Eintreffen dieses Besuches sich verbreitete. Seit achtundzwanzig Jahren war Voltaire nicht in der Hauptstadt gewesen; seitdem hatten die Gewohnheiten, die Sitten und Trachten sich vielfach verändert. Schon die hohe und hagere Gestalt des Vierundachtzigjährigen, schon sein bleiches, ungemein abgezehrtes Gesicht mit den dünnen Lippen, der spitzen Nase und den großen funkelnden Augen machten den Eindruck des Ungewöhnlichen. Denkt man sich einen scharlachrothen Hermelinpelz hinzu, Schuhe und hohe seidene Strümpfe, in der Hand ein Stöckchen, auf der majestätischen schwarzen Allongeperücke eine viereckige rothe Mütze, die in eine goldbordirte Krone auslief, so läßt es sich begreifen, daß dieser große Landsmann plötzlich vor seinen Parisern auftauchte wie ein erhabenes Bild aus längst entschwundenen Tagen. Durch seine Gedanken aber war er hier mit Unzähligen lebendig verwachsen, Unzähligen nahe vertraut und verwandt, und zu ihren Seelen sprach aus dieser verwitterten Hülle der warme und jugendfrische Geist der Gegenwart. Vom Tage seiner Ankunft an belagerten dichte Schaaren das Haus, in dem er wohnte. Erst am 31. März aber sollte die ganze Fülle seines Ruhmes sich über ihn ergießen. An diesem Tage hielt die Akademie ihm zu Ehren eine Festsitzung, und gegen allen früheren Brauch gingen ihm bei seinem Eintritte die Mitglieder bis an die Thür des ersten Saales feierlich entgegen und übertrugen ihm den Vorsitz. Diese stille Ehrfurchtsbezeigung der Wissenschaft war aber nur ein Vorspiel dessen, was noch folgen sollte. Von der Akademie ging es in’s Theater, wo „Irene“ und sein Drama „Nanine“ aufgeführt wurden. Durch Hunderttausende, die in betäubendes Freudengeschrei ausbrachen, mußte in den Straßen der Wagen sich langsam vorwärts bewegen. So wie derselbe hielt, kletterte Alles auf die Decke und auf die Räder, um den Gefeierten in der Nähe zu sehen. Im Theater harrte Kopf an Kopf ein glänzendes und festlich geschmücktes Publicum, und den ganzen Abend hindurch erbrauste das Haus von den Stürmen begeisterungsvoller und ergreifender Huldigungen, wie kein König und Herrscher, kein Dichter und Schriftsteller sie jemals an solcher Stelle erlebt hat. Als Voltaire, fast erliegend unter der Bürde der Jahre und der Lorbeeren, den Schauplatz dieses beispiellosen Triumphes verließ, empfing ihn unten wiederum das Jauchzen der Volksmassen. Tausende von Händen streckten sich ihm entgegen; Tausende von Stimmen riefen seinen Namen, und bis tief in die Nacht hörte man in den Straßen den Ruf: Es lebe Voltaire! Der Hof war allen diesen Feierlichkeiten fern geblieben, und in der Akademie hatten die bischöflichen Mitglieder sich nicht eingefunden. Es war das erste Mal, daß die Gesinnung und die öffentliche Meinung Frankreichs in einer deutlich sprechenden Kundgebung zu einem gänzlich unabhängigen Ausdruck durchgebrochen war. Das war das Bedeutsame und Denkwürdige an diesen erhebenden Momenten.

Nach dem Geräusche dieses Tages zog Voltaire sich zurück, um an seinem neuen Wörterbuche der französischen Sprache zu arbeiten. Aber die außerordentlichen Aufregungen hatten doch endlich seine Lebenskräfte aufgerieben. Er erkrankte, mußte das Bett hüten und fühlte nach einigen Wochen, daß sein Ende nahe sei. „Adieu, mon cher Morin! Je me meurs!“ sagte er am 30. Mai Nachts gegen elf Uhr zu seinem Kammerdiener, und wenige Augenblicke darauf war er sanft und ruhig verschieden. Die Geistlichkeit hatte es natürlich in den letzten Tagen an ihren hergebrachten Zudringlichkeiten nicht fehlen lassen; er hatte ihre Abgesandten auch freundlich empfangen, ihr Glaubensexamen aber mit der Bitte beantwortet: „Lassen Sie mich doch in Frieden sterben!“ Alle anderen Erzählungen über diesen Vorgang sind erlogen, was schon aus dem Umstande ersichtlich ist, daß ihm das kirchliche Begräbniß verweigert wurde, daß die öffentlichen Blätter von seinem Tode nicht sprechen durften und seine Leiche nach dem Landgut eines Verwandten geschafft werden mußte. Bis zum heutigen Tage verfolgt die große Pfaffenpartei des Priesterthums sein Andenken mit der Gluth eines Hasses, von dem sich nur sagen läßt, daß er ihn redlich und im Schweiße seines Angesichts durch Thaten verdient hat, welche die Gewalt eines finsteren Kirchenwesens zum Segen der Menschheit erheblich geschwächt und erschüttert haben.

Elf Jahre nach seinem Hinscheiden brach die weltumwälzende Bewegung aus, die er nicht gewollt, zu der er aber einen beträchtlichen Theil des Samens ausgestreut und deren Aufkeimen bei der blinden Hartnäckigkeit der Regierung und der herrschenden Classen auch allgemein seinem scharfen Blicke nicht entgangen war. „Alles was ich rings um mich geschehen sehe,“ so schrieb er bereits 1764 an den Abbé Chauvelin „wirft den Keim zu einer Revolution aus, die unfehlbar eintritt, von welcher ich aber nicht mehr Zeuge sein werde. Das Licht hat sich immer allgemeiner verbreitet; bei der ersten Gelegenheit kommt es zum Ausbruch und dann wird ein höllischer Lärm entstehen. Wer jung ist, ist glücklich; er wird schöne Dinge erleben.“

Das Wort war ein prophetisches und ist unvergessen geblieben. Was Voltaire für die Heraufführung eines neuen Bewußtseins, für die Erlösung des Denkens und Fühlens aus den Fesseln eines ertödtenden Despotismus gethan hat, das ist später von der modernen deutschen Wissenschaft und Literatur, seit Lessing und Kant, viel gründlicher, viel durchgreifender und endgültiger auf gänzlich anderen und neuen Wegen vollführt worden. Aber die ersten mächtigen Anstöße der Befreiung sind in einer Zeit tiefster Umnachtung von ihm ausgegangen, und mit vollem Rechte sagt der englische Historiker Carlyle von ihm: „Wäre Voltaire und wäre seine Thätigkeit in der Geschichte des 18. Jahrhunderts nicht gewesen, so würde dadurch ein größerer Unterschied in der jetzigen Lage der Dinge bedingt sein, als von irgend einem anderen Menschen der vergangenen Jahrhunderte gesagt werden kann.“ Treffender noch wird eine Hauptseite der Bedeutung Voltaire’s von seinem Biographen Condorcet in dem Satze zusammengefaßt: „In ganz Europa hatte er einen Bund gestiftet, dessen Seele er war. Das Feldgeschrei dieses Bundes lautetet Vernunft und Toleranz. Wurde irgendwo eine große Ungerechtigkeit verübt, vernahm man von einer That blutiger Verfolgungssucht, wurde die Menschenwürde verletzt, da stellte eine Schrift Voltaire’s die Schuldigen vor ganz Europa an den Pranger.“ Diesen seinen großen Zorn gegen Unterdrückung, Gewaltthat und Unmenschlichkeit hat er mindestens sechszig Jahre hindurch in den Herzen seiner Zeit entzündet, und dieser Zorn ist eine heilsame und bestimmende Macht geblieben in allen weiteren Geschicken der Menschheit.

A. Fr.




Alwine.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Paul Wislicenus.
(Schluß.)


Der Sturm war mit furchtbarer Gewalt losgebrochen. Krachend schmetterten die Wogen an unseren unthätigen Radkasten. Das schwankende Schiff stieg hoch auf die Schaumkämme hinauf und stürzte geneigt und donnernd in die Abgründe, um nach wenigen Minuten wieder, in allen seinen Fugen stöhnend, emporzuschweben. Kurz und fest gerefft waren die Segel, sichtlich bogen sich die Masten, kreischend und knarrend, als wenn sie brechen wollten. Plötzlich brach ein Stück der hinteren Raa ab und das Segel flatterte mit dem splitternden Bruchstücke wie rasend im Winde. Wir waren dem Hafen von Halifax ziemlich nahe, allein wir durften es nicht mehr wagen, in denselben einzulaufen.

Kein Schiff, kein Lootsenboot war zu sehen in diesem Getobe des wogendes Elementes. Es gischte und prasselte, es donnerte und spritzte. Man konnte auf Deck nicht sein, ohne sich krampfhaft festzuhalten, und auch da noch schlug man gelegentlich einmal hin. Jay Robinson auf der Commandobrücke beschwor mich, hinunter zu gehen, und betäubt und durchnäßt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_398.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)