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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Alwine.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Paul Wislicenus.
(Fortsetzung.)


Trotz der Versicherung Jay Robinson’s, daß der Unfall mit dem Senkblei ohne schlimme Folgen abgelaufen sei, hatte doch die Maschine arg gelitten. An einem hellen Mittage blieb sie plötzlich stehen.

Es war klares Wetter, und das Schiff schwankte nur mäßig, als Alles dem Mitteldecke zueilte, wo durch einen niedrigen gläsernen Pavillon der Blick in das Getriebe der Maschine ermöglicht war. Jetzt stand die Maschine still, und der Bolzen ruhte. Sieben Männer, mächtige rußgeschwärzte Maschinisten, standen auf der Metallscheibe und schraubten sie von dem Cylinder los. Dann traten sie daneben und hoben sie in die Höhe.

Athemlos starrte Alles auf die Scene. Von der Brücke blickte der Capitain hinunter, unten um den niedrigen Pavillon standen die Passagiere. Die nächste Minute mußte Gutes oder Böses bringen. Wir befanden uns am Anfange der gefährlichen Neufundlandbank, dicht am Ziele unserer Reise. Ein Raddampfschiff ohne Maschine, mit Hülfe seiner wenigen Segel sich fortbewegend, vielleicht im Nebel sich verirrend oder dem Zusammenstoße mit einem der zahlreichen die Bank kreuzenden Fahrzeuge ausgesetzt – es war keine beneidenswerte Lage.

„Wie steht’s, Jungens?“ rief der Capitain, als gerade sechs von den Maschinisten die schwere Scheibe mit ihren Schultern in die Höhe gehoben hatten und der siebente unter dieselbe gekrochen war.

Lange Pause.

„Weiß nicht, Capitain,“ sagte einer der Leute, der die Platte kaum mehr halten konnte.

Endlich ertönte unten eine dumpfe Stimme: „Ventil entzwei – nichts zu machen.“

„So hebe es heraus und setze eines von den Reserveventilen ein!“

„Sind nur noch drei da; eines davon ist caput; das andere paßt nicht, und das dritte ist verrostet.“

„So putzt es!“

„Geht nicht, Captain, ist ganz verdorben.“

Der Capitain stampfte mit dem Fuße; er ließ den Schuldigen, der die Ventile hatte verderben lassen, unten im finstern Schiffsraum in Fesseln legen und befahl alle Segel aufzusetzen. Aber die schwache Brise schwellte sie kaum; das Meer wurde glatter und glatter; wir schienen uns nicht vom Flecke zu rühren. Dennoch constatirte der Capitain, daß wir uns der Südostspitze Neufundlands näherten. Gegen Abend sahen wir in weiter Ferne ein Schiff, und es wurde Vorbereitungen getroffen, dasselbe durch Signallichter auf uns aufmerksam zu machen. Um zehn Uhr Nachts stieg ich auf Deck, um vor dem Schlafengehen zu sehen, ob man aus dem anderen Fahrzeuge unsere Signale bemerkt habe. Nebel, dichter, undurchdringlicher Nebel rings umher. Finsterniß und schauriges Schweigen. Selten einmal das Plätschern des Wassers an den Schiffswandungen oder das Geschrei einer Möve zu hören, die man nicht sah. Rastlos, unheimlich, geisterhaft schwankte das Schiff.

Als ich wieder in die Kajüte hinunterging, waren beinahe sämmtliche Passagiere wach. Man konnte nicht schlafen; man sprach, raunte, flüsterte. Angst und Erwartung malten sich auf den bleichen Gesichtern. Die Damen waren in flüchtiger Toilette, die Kinder im Negligé. Ich war eben bemüht, die Damen zu beruhigen, als mich Mr. Bateman am Ellbogen berührte. „Die schöne Nürnbergerin wünscht Sie zu sprechen.“

„Mich?“

„Ja, Sie. Ich fand im Vorbeigehen ihre Thür halb offen und sah sie dasitzen und weinen; als ich fragte, ob ihr etwas fehle, sagte sie, sie wolle mit Ihnen sprechen.“

Ich ging zu ihr.

In dem schwach erleuchteten engen Gemache waren an dem oberen Bette die grünen Vorhänge zugezogen; diejenigen an dem unteren waren offen. Auf dem Sopha an der rechten Wand des Zimmers saß sie, flüchtig angekleidet; das Haar hing in reichen Wellen über ihren Arm herab, der den Kopf stützte. In der Linken hielt sie ein Taschentuch. Als sie mich erblickte, sprang sie hastig auf und that schwankend ein paar Schritte vorwärts. „Sie müssen mich retten,“ rief sie in plötzlich ausbrechendem Schluchzen. „Ich will nicht untergehen, will nicht sterben; ich habe Niemand, wenn das Unglück geschieht – – nur Sie.“

„Warum denken Sie nicht an den Steuermann, Fräulein Bodinus?“ sagte ich mit hervorbrechender eifersüchtiger Bitterkeit.

Ich gewahrte, trotz der geringen Helligkeit, daß ihr das Blut jäh in das Gesicht schoß.

„Mein Gott!“ murmelte sie tonlos, „er haßt mich, er hat kein Herz mehr für mich!“ Und sie trat wieder zurück, deckte das Gesicht mit beiden Händen und sank vor dem Sopha in die Kniee. Eine stürmische Empfindung von Glückseligkeit lief wie ein heißer Schauer durch meine Nerven. Ich wäre am liebsten zu ihr niedergekniet und hätte ihr die feinen, thränenüberströmten Hände geküßt und ihr meine Thorheit abgebeten. Aber ich zwang den Rausch nieder.

„Sie liebt Jay Robinson doch,“ sagte ich zu mir, „und eben das ist es, warum sie dich rufen ließ und nicht den Steuermann. Man flüchtet zu einem Freunde, aber nicht zu dem heimlich Geliebten.“ Dieser Satz erschien mir im Augenblick als unumstößliche Wahrheit, weil ich es so wollte.

„Ich war Ihr Freund, liebes Fräulein, und ich bin es noch trotz Ihres thörichten Grolls, den ich mit nichts verschuldet, als mit dem unschuldigen Unrecht, das ich beging, für Ihren Gatten gehalten zu werden. Sie überschätzen die Gefahr, Fräulein Bodinus, aber wenn es zum Aeußersten kommt, was Gott verhüte, so werde ich für Ihr Leben sorgen bis zum letzten Athemzuge.“

Ich hatte kühl sein wollen, und meine Stimme bebte doch, als ich das Letzte sprach. Sie schien aufmerksam zugehört zu haben, denn sie war plötzlich ruhiger geworden, ohne indeß ihre Stellung zu verändern.

„Ich biete Ihnen die Hand eines Bruders; stehen Sie auf und gestatten Sie mir, daß ich mich zu Ihnen setze und Ihnen die Angst verscheuchen helfe!“

Sie ließ langsam die Hände sinken und sah mich mit scheuen Augen an.

„Nein,“ rief sie wie in plötzlicher Angst, „gehen Sie jetzt! Es ist besser so. Aber Sie zürnen mir nicht, nicht wahr – nun nicht mehr?“

Ich sah einen Augenblick in diese feuchten, flehenden, wundervollen Augen, raffte meine ganze Kraft zusammen und sagte: „Nein.“ Dann verließ ich sie.

Ich konnte in meiner Cabine kein Auge zuthun. Im Bette liegend und zwischen den geöffneten Vorhängen hindurch in den matt erleuchteten engen Raum und auf das rothe Plüschsopha blickend, das in meinem Zimmer genau so war, wie in dem ihren, dachte ich sie dort unter Thränen entschlummert, die schönen Arme um’s Haupt geschlungen, die Hände und Knöchel von dem goldrothen Haare umflossen, und ich neigte mich in Gedanken und küßte ihren süßen Mund. –

Am anderen Morgen hatte sich der Wind erhoben, der den Nebel wild durch die Masten und Taue und über’s Meer trieb. Das Schiff segelte langsam und ruhig seinen verschleierten Cours. Der Capitain hatte sich in sein Gemach zurückgezogen, und Jay führte das Commando. Er winkte mir, auf die Commandobrücke zu steigen, als ich das Deck betrat.

„Wie geht es Miß Bodeinös?“ fragte er. „Ich habe sie seit gestern Mittag nicht wieder gesehen. Hat sie viel Angst und Sorge gehabt?“

„Sie ist wieder ruhiger,“ sagte ich. „Heute früh ist sie noch nicht zum Vorschein gekommen.“ Ich schauerte wie im Fieber bei dem Gedanken, daß ich herausgekommen war, um eine Entscheidung zu veranlassen, aber es mußte sein; ich hatten es mir gelobt am Ende dieser schlaflosen Nacht. „Sagen Sie einmal, lieber Robinson,“ fuhr ich langsamer fort, „lieben Sie das Mädchen?“

Eine Thräne trat ihm in’s Auge, und er wendete sich ab.

„Glauben Sie nicht, daß ich Sie deshalb tadle! Sie ist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_385.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)