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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gemeinde, Männer, Frauen, selbst junge Mädchen, welche ihren Seelsorgern die schuldige Hochachtung bezeigen wollen, und bei jeder Unterbrechung wiederholt sich das Lächeln, die salbungsvolle Begrüßung, das feierliche Handschütteln.

Zuletzt jedoch scheint die Zahl vollständig zu sein, denn man schielt nach der Uhr und der Sonne, welche schon ziemlich heiß auf die Menge herabzuscheinen beginnt. In die Versammlung kommt eine tumuluarische Bewegung, welche indessen nur der Vorläufer einer tiefen darauf folgenden Stille ist. Auf den Bänken des offenen Platzes ordnet sich die zahlreiche Gemeinde; die Prediger reihen sich die Sitze entlang, welche an den inneren Wänden des Schuppens hinlaufen, und einer von ihnen, ein Mann von ehrwürdigem Alter und Aussehen besteigt die Tribüne und erklärt die Uebungen für eröffnet. Er leitet dieselben durch eine kleine Rede ein, in welcher er auf den gottgefälligen Zweck der Zusammenkünfte hinweist. Alsdann kniet er nieder, und die ganze Gemeinde folgt seinem Beispiele. Man erhebt sich plötzlich von den Sitzen, dreht sich, kniet auf den Erdboden und birgt die Gesichter auf den Bänken. Bei diesen demüthigen Geberden vergessen die Andächtigen aber keineswegs die nöthige Sorgfalt für ihre neuen Anzüge. Während die Frauen ihre Oberkleider aufschlagen, ballen die Männer ihre baumwollenen Sacktücher zusammen und stützen das eine Knie darauf. Erst nach diesen praktischen Vorsichtsmaßregeln wendet die Gemeinde ihr Ohr dem Gebete zu, welches der Geistliche gen Himmel sendet. Wer mit dem Eifer der Methodisten nicht vertraut ist, möchte an diesem Gebete schon einen ziemlichen Grad von Ekstase entdecken – nicht so der Eingeweihte. Er beurtheilt dasselbe sichtlich als das mäßige Vorspiel zu einer gewaltigen Melodie, als das Wehen des Windes, welcher den furchtbaren Orkan einleitet. Wie das Rad, welches einen Abhang hinunter rollt, von Secunde zu Secunde an Schwung gewinnt, so arbeitet sich die betende Methodistengemeinde erst allmählich in jenen Paroxysmus hinein, welcher den Uneingeweihten förmlich mit Entsetzen erfüllt.

Sobald das Gebet beendigt ist, betritt ein anderer Geistlicher die Tribüne und theilt der Gemeinde mit, daß man eine Hymne singen und dann der Predigt eines gewissen Bruders lauschen werde. Dieses Programm wird auch ohne Verzug in Ausführung gebracht und ein fanatischer Gesang zu der Melodie: „Du, Du liegst mir im Herzen“, nicht etwa vierstimmig, sondern vielstimmig abgeleiert. Dann betritt der Prediger die Tribüne. Der geistliche Herr ist eine starke, vierschrötige Gestalt mit groben Gesichtszügen, unheimlich leuchtenden Augen und struppigen Haaren, welche – vielleicht berechnet – wild um den Kopf herhängen. Wie der Prediger, so ist auch die Predigt: rauh, fast wild, aber kräftig, aufregend, ja markerschütternd brausen die Worte umher, und nach dem Eindrucke, den sie selbst auf mich, den passiven Beobachter, den kritisirenden Laien machen, vermag ich wohl die Wirkung zu begreifen, welche diese Feuerrede auf schwache, empfängliche, gläubig gesinnte Gemüther haben muß. Wie alle Zeloten, verweilt der Mann weniger bei der Schönheit und Harmonie der Tugend, bei der Liebe und Barmherzigkeit seines Gottes, als bei der Abscheulichkeit des Lasters, dem berückenden Einflusse der Sünde, der Furchtbarkeit des Höllenpfuhls.

Still und schaudernd sitzt die Gemeinde beim Schlusse da, und wie nun ohne Zeitverlust ein frischer Geistlicher auftritt und die Brüder und Schwestern auffordert, vereint mit ihm zu beten, leuchtet hier und dort schon ein Auge in fanatischem Feuer auf. Sonderbarer Weise scheinen die Alten die Empfänglichsten: vielleicht, daß sie – in Folge langjähriger Uebung – weniger Schwierigkeit finden, sich in die erwünschte Ekstase hineinzuarbeiten.

Rasch nimmt die Gemeinde die knieende Stellung ein, und zwar jetzt mit weniger Rücksicht für die neuen Kleider, als das erste Mal. Während der Prediger eifrig zu beten beginnt und heiß und immer heißer sein Flehen gen Himmel sendet, sprühen allenthalben die ersten Funken der Begeisterung von der Menge auf. Die alten Männer bekräftigen die ihnen am meisten zusagenden Stellen des Gebetes mit wiederholtem, energischem „Amen!“ und die Matronen schreien mit schriller Stimme in einem fort ihr: „O Jesus, my redeemer!“ dazwischen. Die Jugend verhält sich noch ziemlich ruhig; wie nun aber ein drittes Gebet folgt, wie diesem sich ein viertes, fünftes, sechstes anreiht und einen immer wachsenden Fanatismus entfaltet, da wird Jung und Alt in den Strudel der Begeisterung hingerissen. Die Ausrufe werden so zahlreich, daß kein einziges Wort des Vorbeters unbekräftigt bleibt. Die anfängliche Ruhe der Gemeinde weicht einer fieberhaften Bewegung; hier und dort erhebt sich eine Gestalt und fuchtelt wild mit den Armen in der Luft umher. Manche trippeln hin und wieder und reiben sich die Hände vor Entzücken; Andere steigen auf die Bänke und stoßen laute Schreie von solcher Wildheit aus, daß sie an jedem anderen Platze und zu jeder anderen Zeit ernstliche Besorgnisse um den normalen Zustand ihres Verstandes erregen würden. Die Eltern freuen sich der Verzückung ihrer Kinder und die Kinder jubeln den rasenden Eltern nach. Je lauter das Geschrei, je wilder die Verrenkungen der Glieder, desto höher auch die Gnade Gottes, desto gewisser die Aussicht auf Errettung aus den Klauen des Satans, die Aussicht auf die Freuden des Himmels.

Nach dem sechsten Gebet folgt eine Pause. Wie die Drescher nach mehrstündigem Schwingen des Flegels ihre Arbeit einstellen, das leere Stroh wegräumen und das gewonnene Getreide einsammeln, so überschauen jetzt die Seelenhirten das Feld ihres Wirkens und sammeln die Opfer ihrer Thätigkeit. Sie scheinen befriedigt, und als von allen Ecken und Enden reuige Sünder auf sie zuwanken, gleitet ein freudiges Lächeln über ihre Züge. Manche dieser Sünder sind so ermattet von ihrem unsinnigen Wüthen gegen sich selbst, daß sie nicht allein gehen können, sondern von Freunden geführt werden müssen. Sie nehmen sämmtlich auf der „Sünderbank“ Platz, einem langen Sitze unmittelbar vor der Tribüne, wo die ganze Gemeinde Zeuge ihrer Zerknirschung und Bußfertigkeit ist und augenscheinlich sein soll. Die Mehrzahl sind Weiber und Mädchen, welche der Paroxysmus, in dem sie sich befinden, ganz und gar gegen das Peinliche ihrer Lage abgestumpft hat. Die nächsten Uebungen der Gesellschaft gelten ausschließlich diesen reuigen Sündern auf der vordern Bank. Mehrere Geistliche reden ihnen nach einander eindringlich in’s Gewissen. Zum Schlusse wird noch ein inbrünstiges Gebet für sie gesprochen. Jetzt endlich geht die Gemeinde aus einander, um den Speisen zuzusprechen, welche in den verschiedenen Buden, Schuppen und Kosthäusern ihrer warten. Belustigend ist der Eifer, womit die guten Leute sich um ihre Seelsorger als Gäste reißen. – Gegen zwei Uhr Nachmittags sammelte sich die verstreute Gemeinde von Neuem auf den Bänken vor der Tribüne, und die Scenen des Morgens wiederholten sich. Ich male dieses Bild nicht weiter aus. Genug, daß das Betfieber stetig um sich griff und gegen Abend in ein förmliches Delirium ausartete. Die Sünderbank wurde zuletzt so voll, daß eine zweite herbeigeschafft werden mußte, um die Bußfertigen alle zu fassen. Wer weiß, wie lange der Unfug in die Nacht hinein gedauert hätte, wenn durch physische Erschöpfung nicht endlich ein Aufhören bedingt worden wäre. Dennoch dunkelte es stark, als endlich das letzte Amen in der Abendluft verhallte. Sofort erfolgte eine erneute Stärkung des Leibes. Es war mir ein räthselhaftes Phänomen, wie schnell diese Leute ihre fromme Stimmung bei Seite setzen und sich in das lebhafteste Gespräch über die allermateriellsten Gegenstände vertiefen konnten. Die Prediger bildeten keine Ausnahme, und ich hörte mit eigenen Ohren, wie zehn Minuten nach dem Schlusse der Andacht zwei von ihnen eine vorteilhafte Landspeculation besprachen. – –

Es ist in den letzten Jahren viel hin und her gestritten worden, namentlich unter den Methodistengeistlichen selbst, wo und wann die Campmeetings entstanden seien. Lange Zeit hielt man Logan-County in Kentucky für die Wiege der Versammlungen. Dies ist ein Irrthum. Die Lagerversammlungen wurden zuerst von den Baptisten in Virginien in’s Leben gerufen. Vor hundert Jahren war es den in Virginien wohnenden Baptisten nicht gestattet, sich in Kirchen und Bethäusern zu versammeln und daselbst Andachtsübungen abzuhalten. Die Kirchen in Virginien standen zu jener Zeit unter der Controlle der bischöflichen Kirche von England, und nur die bischöfliche Lehre durfte von den Kanzeln verkündigt werden. Die Baptisten aber ließen sich dadurch in ihren Andachtsübungen nicht stören. Sie kamen in Privatwohnungen, in Scheunen oder an anderen Plätzen, wo sie sich vor den Episcopalen sicher glaubten, zusammen.

Einer der feurigsten und entflammtesten ihrer Geistlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_368.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)