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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

(November 1826). Aber der Geselle und der Prophet gelten nichts in ihrem Vaterlande. Beide müssen wandern. Auch Robert wanderte, natürlich nicht als Prophet, sondern als Gelbgießergeselle. Diese Tage der Wanderschaft kann ich nun auf Tag und Stunde, an der Hand der eigenen Aufzeichnungen des Wanderers verfolgen. Robert Blum hat nämlich durch seine Wanderjahre ein „Reise-Journal“ geführt. Das ist der früheste eigenhändig von ihm geschriebene und, was die Glaubwürdigkeit erhöht, auf der Wanderschaft selbst tagebuchartig fortgeführte Bericht aus seinem Leben, den ich besitze. Er wurde unter seinen nachgelassenen Papieren vorgefunden. Leider sind alle seine Briefe an die Seinen aus jener Zeit, deren er trotz des theuren Portos viele schrieb, verloren gegangen. Aber das Reise-Journal läßt, obwohl es nur die Reiseroute in Meilen, die Zeit des Aufenthaltes an den einzelnen Orten angiebt und diese Orte nebst Umgegend schildert, alles das zwischen den Zeilen lesen, was aus den mir vorliegenden Zeugnissen seiner Meister und sonstigen Quellen über seine Wanderschaft berichtet wird: daß Robert nämlich, in Folge seiner schwachen Augen, überall zu feinerer Arbeit sich wenig tauglich zeigte, und daher überall nur kurze Zeit kaum lohnende Arbeit fand, obwohl er sich überall „honett betrug“, wie es in den Zeugnissen steht.

Am 25. November 1826, genau zwanzig Jahre nach dem Hochzeitstage seines Vaters, trat Robert, noch seinem Reise-Journal, die Wanderung an. Er erreichte an diesem Tage Bonn. Es war der erste Schritt in die Welt, den er that. Man sieht den ersten Seiten des Journals deutlich an, mit welcher Begeisterung der arme, zeitlebens bisher an die Scholle gefesselte junge Mann oder „Jüngling“, wie er sich selbst noch drei Jahre später nannte, die Wunder des Rheinlandes begrüßte. Die für die „Bemerkungen über die Gegend“ eingerichtete Spalte des Journals reicht überall nicht zu, um das volle Herz ausströmen zu lassen. Dabei spricht Robert natürlich wie ein Buch. Er will vor sich selbst zeigen, daß er doch schon Einiges gelernt und nichts vergessen hat. So versichert er, kaum in Bonn angekommen, und ohne jede eigene Kenntniß von anderen Städten als Köln und Bonn: „Die Reste von Bonns ehemaliger Herrlichkeit als kürfürstliche Residenz, verbunden (!) mit der Universität und ihren gelehrten Instituten, machen die sonst unbedeutende Stadt zu einer der merkwürdigsten am Rheine.“ Schon am 27. November wanderte er über Remagen, Andernach, Neuwied nach Weißenthurm, am 28. bis nach Coblenz. „Ihm gegenüber liegt auf der fast unersteigbaren Zinne eines schroffen Felsens die Bergveste Ehrenbreitstein, das deutsche Gibraltar, ein vollendetes Meisterwerk deutscher Befestigungskunst,“ schreibt er in sein Journal. Und dann schildert er die Gegend auf seinem Weitermarsch nach Caub, Bacharach etc. also: „Von hier aus wird die Gegend immer wilder und romantischer. Gigantische, jeder Vegetation (?) unfähige Felsenmassen, deren Gipfel mit den Denkmälern grauer Vorzeit und deutschen Heldenmuthes gekrönt sind, wechseln mit lieblich grünenden Weinbergen; der stolze Fluß, in enge Schlünde zusammengedrängt, bahnt sich in mäandrischen Krümmungen den Weg durch das Felsenlabyrinth und scheint oft mit dem Donnern und Brausen seiner Wogen das ganze Bett sprengen zu wollen.“ Gewiß haben wenige wandernde Gelbgießergesellen damaliger Zeit so gut geschrieben und so wenig Arbeit gefunden, wie Robert. Denn schon am 10. December traf er, auf demselben Wege rückwärts wandernd, wieder in Köln ein.

Der Schrecken der Seinen über die rasche Heimkehr scheint kein geringer gewesen zu sein. Schon nach zwei Tagen ergreift er abermals den Wanderstab und zieht über Opladen und Solingen nach Elberfeld. Die Landschaft, die er durchwandert, schildert er in seinem Reise-Journal also: „Die Gegend, welche an den Ufern des Rheins flach bleibt, beginnt östlich von Opladen sich zu erheben; Hügel von Sand und Mergel sind die Vorboten größerer Berge, die in romantischen Gruppen die Gegend bedecken und ihr ein wahrhaft schweizerisches (?) Ansehen geben. Ackerbau findet man meistens nur in den Thälern und am Fuße der Berge und auch hier nur unbedeutend. Die Einwohner ernähren sich größtentheils von Fabrikarbeit, und ihr Fleiß und ihre Arbeitsamkeit sind bewundernswerth und fast beispiellos. In den verborgensten Tiefen klappern unaufhörlich die Hämmer der zahlreichen Eisenwerke, und nicht selten tönt uns von der unwirthbarsten Spitze der Berge aus einer einzelnen Hütte das Knarren der Webstühle entgegen oder wir hören die einförmigen Schläge einer Schmiede, die auch in der schaurigsten Einöde an das Dasein uns ähnlicher Wesen erinnern.“

In Elberfeld und Barmen blieb Robert vom 12. December 1826 bis zum 6. Juni des Jahres 1827 in Arbeit bei verschiedenen Meistern. Der zweite, der ihn beschäftigte, sagte ihm beim Abschied – gewiß nicht mit Unrecht –: „er passe nicht zu einem Handwerksmann; er solle lieber ein Federfuchser werden.“ So viel Wahrheit und Menschenkenntniß in diesem Worte lag, für Robert enthielt es das Schmerzlichste, was ihm ein Mensch damals offenbaren konnte: die rückhaltlose Aussprache der furchtbaren Erkenntniß, die er selbst im tiefsten Schrein seines Herzens bewahrte – daß er seinen Beruf verfehlt habe, daß ihm aber zur Durchführung seiner wahren Lebensaufgabe, der productiven Geistesarbeit mit der Feder, das Nöthigste abgehe, Wissen und die Mittel zur Fortbildung.

Unter der ganzen Wucht dieser erdrückenden Erkenntniß, völlig überzeugt, daß ihn sein Handwerk, bei dem so viele Andere ihr reichliches Auskommen fanden, nicht nähren könne, trat Robert am 6. Juni 1827 wieder den Heimweg nach Köln an,[1] wo er verzweifelt den Seinen das ganze Herz ausschüttete.

Da begünstigte ihn zum ersten Mal in seinem Leben ein fast wunderbarer Glücksfall. Als er hoffnungs- und aussichtslos die Zeitung durchblätterte, um nach irgend einer Stellung zu suchen, welche ihm wenigstens ermöglichte, seiner guten Mutter die Sorge für seine Ernährung abzunehmen, fand er die Anzeige eines Herrn J. W. Schmitz, eines Lieferanten der vor Kurzem neu eingeführten Straßenlaternen mit einem Licht. Dieser Vertreter der öffentlichen Aufklärung suchte „einen jungen Mann mit hinlänglichen Schulkenntnissen, der in Arbeiten in Metallen erfahren und geneigt sei, Arbeiten zu beaufsichtigen und selbst mit zu arbeiten“. Robert bot sich sofort bei Schmitz an. Er gefiel dem Manne und Schmitz nahm ihn gleich an. Als die Mutter, die wohl kaum an das gute Glück ihres unglückliche Kindes glauben mochte, nun auch zu Schmitz eilte, um einen „Accord“ mit ihm zu machen, sagte der Straßenbeleuchter: „Liebe Frau, es bedarf keines Accordes. Ich habe in Ihrem Sohne einen Schatz gefunden. Ich kenne ihn erst sehr kurze Zeit, aber ich habe seine herrlichen Eigenschaften erkannt und weiß sie zu würdigen. Für die Beschäftigung, zu der ich ihn anfangs anzunehmen gedachte, ist er zu gut. Seine Ausbildung und seine Zukunft nehme ich auf mich. Ich habe ihn lieb gewonnen.“

So glücklich und verheißungsvoll eröffnete sich Robert’s Stellung bei einem Manne, der trotz der widersprechendsten Anlagen seines Charakters und trotz der schroffsten Wandlungen in seinem Verhalten Robert gegenüber doch eine der bedeutsamsten Rollen im Leben desselben gespielt hat. Denn Schmitz hat dem jungen Mann zum ersten Mal Gelegenheit gegeben, sein Vaterland kennen zu lernen, es sorgenlos und behaglich beobachtend zu durchmessen. Er hat Robert zum ersten Mal Muße, Anregung und – wenn auch dürftige – Mittel geboten, um an seiner wissenschaftlichen Fortbildung zu arbeiten. Er hat ihn die reichen Bildungsmittel, welche schon der bloße Anschauungsunterricht des damaligen München und Berlin bot, monatelang benützen und genießen lassen. Und derselbe Mann hat dann andererseits seinen treuesten, begeistertsten und dankbarsten Mitarbeiter tiefer gedemüthigt und härter behandelt, als irgend ein Anderer, von dem Robert mit seiner Existenz abhing. Schon vom psychologischen Standpunkte aus verdient daher dieser merkwürdige Mensch besondere Beachtung, hier aber insbesondere auch darum, weil der Dienst bei ihm für Robert’s Lebensziel und Ausrüstung nach dem Obigen von größter Bedeutung war. Daher scheint es gerechtfertigt, wenn wir das nächste Capitel überschreiben: Bei „J. W. Schmitz“.

Hans Blum.
  1. Das „Reise-Journal“ verzeichnet hier, charakteristisch genug, nur Orte und Meilendistancen ohne jede Bemerkung.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_318.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2016)