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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

in seiner Gemeinde eingetroffen, so verbanden sich, bis auf drei alte Herren, alle Geistlichen des Kreises „solidarisch“ mit dem Superintendenten in Züllichau „zur Abwehr des seelenverderblichen Eindringlings“, wie es an der Abmachung wörtlich hieß. Natürlich versuchte man alle erdenklichen Mittel, um dem neuen Pfarrer seine Gemeinde zu entfremden, und jener hatte einen recht schweren Stand und würde anfangs bittere Tage verlebt haben, wäre ihm nicht eine treue liebe Gattin zur Seite gestanden, welche Trost und den Sonnenschein des Glücks in das einsame Pfarrhaus brachte. Kurz vor Uebernahme der Pfarre in Nickern hatte sich Dr. Kalthoff mit Fräulein Anna Franz aus Rügenwalde vermählt, die ihm während einer zweiundeinhalbjährigen, überaus glücklichen Ehe einen Sohn schenkte und dann zu Anfang dieses Jahres starb. So schwand dieses Familienglück gleich schnell dahin, wie jenes unseres Lessing, von welchem Heine sagte: „Dieses Glück war wie der Sonnenstrahl, der den Fittig eines vorüberfliegenden Vogels vergoldet.“

Indessen gelang es Dr. Kalthoff, sich trotz aller Machinationen seiner orthodoxen Collegen in so hohem Grade die Zuneigung seiner Gemeinde zu erwerben, daß nach der Versicherung höchst ehrenwerther Gemeindemitglieder die Kirche nie zuvor auch nur annähernd so gut besucht war, wie seit der Zeit, da er die Kanzel bestieg, und daß keinem seiner Collegen im Kreise so viel Vertrauen und Liebe entgegengebracht wird, wie dies ihm gegenüber von Seiten seiner Gemeinde geschieht. Zur Erwerbung dieses Vertrauens hat nicht zum geringsten Theil die Thatsache beigetragen, daß er nie versuchte, in der Predigt seine Ueberzeugung zu verschleiern; er gab seiner redlichen Meinung einen unverfälschten und höchst beredten Ausdruck, und von allen Seiten strömten ihm die Hörer zu. So zeigt sich stets nur um so deutlicher, wie wenig Boden die Orthodoxie im Volke hat, je rücksichtsloser und geschlossener sie auftritt.

Kurz nach dem Hinscheiden seiner Frau erhielt Dr. Kalthoff die Actenstücke des Oberkirchenrathes in der Hoßbach’schen Sache. Sofort drängte sich dem Manne mit unabweisbarer Macht der Gedanke auf: jetzt heißt es Farbe bekennen. In seinen Augen war durch jene Entscheidung des Oberkirchenraths der liberalen Theologie ein Schlag in’s Gesicht versetzt, und den vermochte er nicht zu ertragen. Es war für ihn eine einfache sittliche Nothwendigkeit, zu erklären, daß er sich in dem Bekenntniß seiner inneren wahrhaften Ueberzeugung nicht durch die vom Kirchenregiment gezogenen Schranken hindern lasse. Vor den Scheideweg gestellt, entweder das zu thun, was der Oberkirchenrath verlangte, und das Wunder, die Existenz der Hölle und des Teufels zu predigen, oder sich selber treu zu bleiben, entschied er sich unbedenklich für das Letztere, denn er konnte nicht vor seiner Gemeinde zum Lügner werden.

Kalthoff that seine Pflicht und gab die Gründe an, weshalb er dem Verlangen der kirchlichen Behörde nicht zu entsprechen vermöge. Am 12. März forderte die Kirchenbehörde ihn auf, sein Amt niederzulegen. Kalthoff verweigerte dies und fragte bei seiner Gemeinde an, ob er recht gehandelt und ob diese Weigerung ihre Zustimmung habe. Die Aufregung, welche in der Gemeinde entstand, als dieselbe erfuhr, was vorgefallen, war eine ungeheuere. Als am 27. März die Amtssuspension erfolgte, steigerte sich diese Aufregung zur Erbitterung gegen diese Maßregel. Die Gemeindevertretung gab vorerst ihrem Pfarrer eine Vertrauenserklärung, von welcher eine Abschrift an den Oberkirchenrath geschickt wurde. Dann sandten sämmtliche Hausväter der Gemeinde einen Protest gegen jene Amtssuspension ab, worin sie erklärten, daß sie von keinem anderen, ihnen aufgedrungenen Prediger Amtshandlungen entgegennehmen würden, indem sie hinzufügten: „Es scheint ja fast, als wenn ein hoher Oberkirchenrath mit seinem Verfahren gegen unseren rechtmäßigen, uns lieb gewordenen Prediger uns zur Landeskirche hinausdrängen wollte. Wir wiederholen daher schließlich nochmals so dringend wie ergebenst unsere Bitte, uns unseren Prediger, der unsere volle Liebe, Achtung und unser volles Vertrauen besitzt, nicht entreißen zu wollen und die Untersuchung gegen ihn zurückzuziehen.“

Als hierauf eine Antwort nicht erfolgte, bat die Gemeinde, es möge Kalthoff die Fortsetzung des Confirmandenunterrichts gestattet werden. Dies Gesuch wurde abgeschlagen. Jetzt schrieb der Gemeindekirchenrath an die oberste Behörde, daß, wenn man ihrem Pfarrer die Einsegnung nicht gestatte, die Familienväter der Gemeinde überhaupt von einer Einsegnung Abstand nähmen. Auf diese Eingabe ist bis heute so wenig eine Antwort erfolgt, wie auf die erste.

Da nun dem Pfarrer von Nickern die Kirche verschlossen war, so veranstaltete der Patron der Kirche, der Rittergutsbesitzer Schulz, eine öffentliche Versammlung aller Glieder der Kirchengemeinde unter freiem Himmel. Trotz des stürmischen Wetters erschien eine zahlreiche Menge, die von Nah und Fern herzugeströmt war. Dr. Kalthoff hielt in bürgerlicher Kleidung eine weihevolle, ernst religiöse Rede und schloß dieselbe mit einem Gebet. Dieser von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit eingegebene Act bildete in den Augen des königlichen Consistoriums einen weiteren Stein des Anstoßes, und Hegel ließ an Kalthoff betreffs dieses Unterfangens eine neue Verwarnung, mit Androhung von Disciplinarstrafen ergehen. Dabei wurde Kalthoff besonders darauf hingewiesen, daß auch ein suspendirter Prediger unter Aufsicht und Disciplin des Kirchenregiments stehe und zwar auch in seinem außeramtlichen Verhalten. Die Abhaltung solcher Versammlungen müsse aber unter den obwaltenden Umständen als „strafbarer Trotz“ gegen kirchenregimentliche Anordnungen aufgefaßt werden.

Der Gemaßregelte erwiderte darauf sehr ruhig, daß er nicht in der Lage sei, der Weisung Folge zu leisten. Als Grund für die Weigerung führte er an, daß in der preußischen Staatsverfassung die Freiheit der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübungen so wie das Recht freier Versammlungen garantirt werde. Neben jenen verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten glaubte Kalthoff aber auch die einfachste Christenpflicht zu erfüllen, wenn er, so oft und so viel es in seinen Kräften stünde, allen denen, welche von ihm Belehrung und Rath wollten, denselben ertheile. Daß die Kirchenbehörde Anstoß daran nehme, weil er ein Gebet mit Segenswunsch gesprochen, findet Kalthoff ganz unerklärlich, und er bemerkt darüber: „Das ursprünglichste heiligste Christenrecht, beten zu können, wann und wo das Herz dazu drängt, beten zu können auch mit denen, mit welchen mich die Gemeinschaft des Geistes verbidet, werde ich mir durch keine Kirchenbehörde verkümmern lassen. In solchem Gebet will ich auch Segen erbitten, nicht allein für meine Freunde, sondern auch für meine Feinde!“

In wie hohem Grade das tapfere, männliche Auftreten Kalthoff’s nicht nur die Sympathien seiner Gemeinde verstärkt, sondern auch die weiterer Kreise ihm zugewendet hat, zeigte sich am Osterfeste. Die Parochie Nickern zählt nur vierzehnhundert Seelen, gleichwohl brachte die kleine Gemeinde an den Festtagen durch freiwillige Sammlung ein Festgeschenk dem verehrten Prediger dar, welches so reichlich war, daß dadurch der durch die Suspension entstandene Ausfall im Einkommen desselben mehr als gedeckt ist. Ferner waren aus den Kreisstädten Züllichau und Schwiebus, in denen Dr. Kalthoff sich durch eine Reihe öffentlicher Vorträge schon früher zahlreiche Freunde erwarb, Hunderte von Hörern nach Nickern gezogen, um seine Festpredigten unter freiem Himmel zu hören und ihm ihre Achtung zu bezeugen. Wohl über dreitausend Personen hatten sich eingefunden.

Wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, ist die Entscheidung des Consistoriums bereits gefallen, denn der Termin war auf den 9. Mai festgesetzt worden; wie sie auch ausfallen möge, so viel läßt sich schon heute mit Sicherheit annehmen, die Gemeinde Nickern hält treu zu dem ihr lieb gewordenen Prediger. Ist in der evangelischen Kirche kein Raum für Jene, welche ein freies Bekenntniß ihrer tiefinnersten Ueberzeugung ablegen wollen, duldet man unter Protestanten die protestantische Freiheit nicht mehr, so verläßt die Gemeinde mit ihrem Hirten diese Kirche, deren Behörde der Toleranz so entfremdet zu sein scheint.

Kalthoff, der in der äußern Erscheinung der echte Typus eines blondhaarigen Germanen ist, wird von allen Mitgliedern seiner Gemeinde geachtet, von den meisten geliebt und verehrt. Sein Kirchenpatron schildert ihn als einen ehrenhaften, selbstlosen, bescheidenen Mann, der von seinen Kenntnissen und seiner reichen Begabung den liebenswürdigsten Gebrauch mache. In seinem Wesen sei nicht der Schatten eines prahlerischen Zuges zu finden, alles an ihm erscheine klar, offen und ehrlich. Zur Opposition gegen das Kirchenregiment habe ihn einzig sein Gewissen getrieben, weiter nichts.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_313.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)