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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


machte hier eine äußerst wirkungsvolle Pause – es ist etwas Schönes, der Schutzengel einer reinen und wahren Liebe zu sein. Ich muß das wissen, ich habe es lange genug durchgemacht.“

„Was meinen Sie denn eigentlich, Herr Doctor?“ fragte das junge Mädchen, das jetzt Verdacht schöpfte und sehr eilig vorwärts zu schreiten begann.

„Das will ich Ihnen erklären,“ rief Max, und schloß sich ihr augenblicklich mit der gleichen Geschwindigkeit an.

Agnes blieb stehen, sie wußte aus Erfahrung, daß das Davonlaufen hier nichts half; dieser unverwüstliche Doctor hielt jedes Tempo von Schritten aus. Sie fügte sich also und hörte zu.

„Sie erzählten mir, daß Baroneß Harder bereits einmal bei Ihnen gewesen sei,“ nahm Max wieder das Wort. „Wenn das nun wieder geschähe und zufällig zu derselben Zeit Assessor Winterfeld –“

„Ohne Wissen der Frau Baronin?“ fuhr Agnes entrüstet auf. „Niemals!“

„Aber so bedenken Sie doch –“

„Niemals! Das ist ein Unrecht, eine Sünde. Solch einen Plan konnten nur Sie ausdenken, aber ich werde mich nie zur Mitschuldigen dabei machen. Ich will nicht.“

Fräulein Agnes war purpurroth vor Erregung und Entrüstung und traf den Doctor Brunnow mit einem so strafenden Blicke, daß er eigentlich die Augen hätte niederschlagen müssen. Aber Max war und blieb verstockt; er blickte das junge Mädchen mit ganz unzweideutigem Wohlgefallen an.

„Sieh den Trotzkopf!“ sagte er bei sich selber. „Ich wußte es ja, die ganze gottselige Ergebung und fromme Lammesgeduld ist nur angelernt, und sobald diese verwünschte Klostererziehung in den Hintergrund tritt, kommt etwas ganz Erträgliches zum Vorschein. Ich werde die Taktik ändern müssen. – Sie willigen also nicht ein?“ setzte er laut hinzu.

„Nein,“ erklärte Agnes mit einem Tone, in dem zwanzig Proteste lagen.

Max nahm eine resignirte Miene an. „So mag das Unglück denn seinen Lauf nehmen! Ich habe alles versucht, meinen Freund von verzweifelten Schritten zurückzuhalten, und ich hoffte das mit Ihrer Hülfe auch zu thun, indem ich ihm wenigstens den Abschied von seiner Braut ermögliche. Wird ihm dieser letzte Trost geraubt, so stehe ich für nichts mehr ein. Er nimmt sich wahrscheinlich das Leben.“

„Er wird doch nicht!“ meinte Agnes unruhig.

„Ich bin leider davon überzeugt. Was Fräulein von Harder betrifft, so wird sie seinen Tod schwerlich überleben; sie stirbt ebenfalls vor Gram und Kummer.“

„Kann man denn wirklich vor Kummer sterben?“ fragte das junge Mädchen, das sichtlich ängstlich geworden war.

„Ich habe in meiner Praxis bereits mehrere derartige Fälle erlebt,“ log der gewissenlose Doctor. „Ich zweifle gar nicht daran, daß ein solcher auch hier eintreten wird. Die Baronin und Freiherr von Raven werden ihre Härte zu spät bereuen, und auch Sie, mein Fräulein, werden dies thun, denn in Ihrer Hand lag es, zwei brechende Herzen vor der Verzweiflung zu bewahren.“

Agnes hörte mit tiefem Mitleid, aber auch mit steigender Verwunderung zu; sie hatte den Doctor Brunnow gar nicht für so gefühlvoll gehalten, aber dieser war jetzt einmal in das Rührende gerathen, und da ihm dies zu seiner eigenen höchsten Verwunderung so ausgezeichnet glückte, griff er zu einem kühnen Schlußeffect. Es kam ihm dabei gar nicht darauf an, den Selbstmord und den Tod aus Kummer, woran vorläufig noch Niemand dachte, als bereits geschehen anzunehmen.

„Und ein solches Ende muß ich erleben!“ sagte er melancholisch. „Ich, der ich gehofft hatte, meinen Freund und dessen Erwählte in die Kirche und zum Altare zu geleiten!“

„Das würden Sie schwerlich gethan haben,“ warf das junge Mädchen ein. „Sie haben mir ja selbst gesagt, daß Sie niemals in die Kirche gehen.“

„Ich werde es in Zukunft thun, wenn das Unglück abgewendet wird,“ erklärte Max. „Uebrigens ist eine Hochzeit eine Ausnahme.“

Fräulein Agnes spitzte bei den ersten Worten die Ohren. Sie war viel zu eifrig im Bekehren, um sich nicht schleunigst der Handhabe zu bemächtigen, die sich ihr so unerwartet darbot.

„Ist das Ihr Ernst?“ fragte sie hastig. „Wollen Sie wirklich in die Kirche gehen?“

„Wollen Sie meine Bitte erfüllen und nur auf eine einzige Viertelstunde meine Schutzengelrolle übernehmen?“

Agnes überlegte; es war ohne Frage ein schweres Unrecht, eine Zusammenkunft zu begünstigen, die der Vormund und die Mutter verboten hatten, aber andererseits galt es, eine Seele dem Himmel zu retten, und dieser letzte Beweggrund besiegte alle Bedenken. Der jesuitische Grundsatz, daß der Zweck die Mittel heilige, richtete auch hier wieder Unheil an.

„Morgen ist Sonntag,“ sagte das junge Mädchen zögernd. „Wenn Sie – wenn Sie die Vormittagspredigt im Dome besuchen wollten –“

„Die Frühmesse,“ verbesserte Max, der eine dunkle Idee davon hatte, daß diese Ceremonie die kürzeste zu sein pflegte.

„Die Vormittagspredigt!“ sagte Agnes so diktatorisch, als hätte sie dem Doctor Brunnow den Ton, in welchem er seine Verordnungen zu geben pflegte, förmlich abgelernt. Sie traute ihm offenbar noch nicht recht; jedenfalls wollte sie den betreffenden Kirchgang erst controlliren, ehe sie sich zur Gegenleistung entschloß; sie setzte deshalb hinzu. „Aber die ganze Predigt, von Anfang bis zu Ende.“

Max stieß einen Seufzer aus. „Wenn es nicht anders geht – in Gottes Namen!“

Das war endlich eine fromme Aeußerung, wie Fräulein Agnes mit Wohlgefallen bemerkte. Sie gab sich der gegründeten Hoffnung hin, daß die Predigt den so mühsam gewonnenen Grund für die rechte Gläubigkeit weiter bearbeiten werde, und in der Freude darüber reichte sie ihrem Widersacher, der jetzt ihr Bundesgenosse geworden war, die Fingerspitzen, bereute dies aber sofort wieder, denn Max machte es wie der Teufel im Sprüchwort; er nahm die ganze Hand, die er in der herzhaftesten Weise drückte und schüttelte.

(Fortsetzung folgt.)



Die religiöse Ueberzeugung vor dem Kirchengerichte.


          – – Laßt durch
     Tyrannisch Droh’n zum Glauben Euch nicht zwingen,
     Der allem äußern Sinn und innern Fühlen
     Entgegen; denkt, harrt aus und schafft im Herzen
     Euch eine inn’re Welt, versagt die äuß’re!
     So kommt der geistigen Natur Ihr näher,
     Und sieget in dem Kampf mit Eurer eig’nen.

          Lord Byron

Immer mehr bricht in dem heutigen Geschlechte sich die Erkenntniß Bahn, daß diejenige Art von Christenthum, welche die Kirche bisher zur Erziehung der Jugend anwandte und noch anwendet, das heißt also ein Christenthum, bei welchem auf Glaubensartikeln und äußerlichen Uebungen der Hauptnachdruck liegt, vom Uebel ist. Es wird dadurch der entschiedenere Theil der Zweifelnden sichtlich allem Religiösen abwendig gemacht; es wird andererseits im Volke jene – geflissentliche oder gewohnheitsmäßige – äußerliche Kirchlichkeit conservirt, welche weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen in wirklichem Zusammenhange steht und im Grunde nur eine Art Heuchelei ist. Der philosophischen und geschichtlichen Erkenntniß vom Wesen des Christenthums, wie die freieren Köpfe sie in geistigem Ringen und Arbeiten seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gewonnen haben, stehen überdies jene Dogmen als etwas Veraltetes, Fremdgewordenes gegenüber. Wer will es hiernach der großen freisinnigen Partei der neueren Theologen, welche den wichtigen Culturhebel echter, innerlich wahrhaftiger Religiosität der Menschheit erhalten möchte, verdenken, wenn sie das Recht in Anspruch nimmt, die altkirchlichen Glaubenssätze unter die persönliche Ueberzeugung zu stellen, dafern diese letztere den ewig gültigen sittlich–religiösen Gehalt des Christenthums nicht verleugnet! Die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_310.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2019)