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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Leben, weder vorher, noch nachher, ist mir eine Autographensammlung begegnet, die sich an Reichhaltigkeit mit dem ‚Löwen-Album‘ entfernt hätte messen können. –

Die Thurmuhr zu St. Martini in Kassel verkündet dröhnend die letzte Stunde und aus einer der auf den Marktplatz einmündenden Straßen hervor sprengt in kurzem Galopp ein jugendlicher Reiter. Dem braunen Walach hart auf der Ferse trabt mit lechzender Zunge eine mächtige Dogge. Vor dem Portal des ‚Löwen‘ macht die kleine Cavalcade Halt. Der junge Mann – schon hat das Hôtelpersonal in ihm einen Göttinger und zwar einen von den beliebten Blauen erkannt – schwingt sich vom Pferde, wirft dem diensteifrig herzustürzenden Hausknecht die Zügel zu und betritt, die Dogge hinter sich, mit klingenden Sporen den zu ebener Erde gelegenen Speisesaal. Reitgerte, Handschuhe und Cereviskappe fliegen auf den nächsten Tisch; der Göttinger macht sich’s auf dem dahinter stehenden Sopha bequem, und der Engländer placirt sich keuchend an der linken Seite seines Gebieters.

‚Jean, ein wenig kaltes Frühstück und ein Glas Bier!‘

‚Zu Befehl! Wünschen der Herr Münchener oder Culmbacher?‘

‚Lagerbier, Jean. Die Zeiten sind schlecht und man muß sich einschränken.‘

‚Bedauere unendlich, aber hier im Speisesaal wird nur Wein oder Baierisch Bier im Pokal verabreicht.‘

‚Gut, Jean, dann bringen Sie mir zur kalten Küche ein Glas Culmbacher!‘

Ein wenig naserümpfend entfernt sich der Herr Oberkellner und servirt nach fünf Minuten das Gewünschte. Schnobernd richtet sich die Dogge empor, legt eine ihre wuchtigen Pranken auf das Knie ihres Herrn und blickt ihm forschend in’s Auge.

‚Nun, Türk, mein Junge, wie ist’s? Hast Du Hunger?‘

Das mächtige Thier rührt kein Glied.

‚Oder vielleicht Durst?‘

Der Rüde fletscht wie besessen das unheimliche Gebiß, beleckt mit der Zunge eifrig sämmtliche Ränder seiner Schnauze und setzt den kurzen Schweif in wirbelnde Bewegung.

‚Aha, also Durst. – Jean!‘

‚Zu Befehl!‘

‚Bringen Sie für meinen Hund eine Flasche Cliquot und ein flaches Gefäß!‘

In der Meinung, man beliebe zu scherzen, producirt Jean pflichtschuldigst ein beifällig albernes Lächeln.

‚Sind Sie schwerhörig, Jean?‘

‚Keineswegs, aber ...‘

‚Ich wünsche für meinen Hund eine Flasche Cliquot und ein flaches Gefäß.‘

Der Herr Oberkellner macht ein ziemlich verdutztes Gesicht und trollt sich kopfschüttelnd. Kurz darauf erscheint er mit einer weitbauchigen Flasche mit silberigem Kopf und einer irdenen Schüssel von erklecklichem Umfange.

Inzwischen hat der Bruder Studio sich in die ausliegenden Zeitungen vertieft; das Local bevölkert sich mit einigen Stammgästen, Verehrern von ‚etwas Caviar nebst einem Special Madeira‘ zum Frühstücke. Sie verfolgen die an unserm Tische sich abspielenden kleinen Ereignisse mit dem lebhaftesten Interesse. Als der Pfropfen knallend zur Decke fliegt, Türk das übliche kurze Geheul zum Besten giebt und innerhalb der nächsten zwei Minuten die Schüssel ihres kostbaren Inhaltes gründlich entledigt hat, schlagen die ‚Herren Philister‘ die Hände über dem Kopfe zusammen. Die Dogge aber liegt schon längst wieder in der majestätischen Stellung einer ägyptischen Sphinx zu Füßen ihres Herrn und Meisters und mustert die Anwesenden mit gleichgültig überlegenen Blicken. –

Die Sonne schießt senkrechte Strahlen, und die dumpfe Schwüle des Julitages wird allgemach wirklich fast unerträglich. Ihre Wirkung ist eine entschieden einschläfernde, zumal nach dem anstrengenden Ritte von heute früh. Wenn man ein Mittagsschläfchen riskiren könnte! Nur so ein ganz kurzes von höchstens einem Viertelstündchen! Vorsichtig sondirt Bruder Studio das Terrain. Der größte Theil der Frühstücksgäste hat sich glücklicher Weise schon wieder empfohlen; nur dort drüben in der Fensternische pflegen zwei ältere Herren bei einem Schoppen Moselblümchen gedämpfte Zwiesprach. Ei was – wozu sich für die paar Minuten erst auf ein Fremdenzimmer zurückziehen? Gedacht, gethan! Geräuschlos lehnt sich der Göttinger in die schwellenden Polster der Sophaecke zurück – unmerklich entsinkt das Zeitungsblatt seiner Hand – er entschlummert.

Die Dogge, welche die Bewegungen ihres Herrn aufmerksam verfolgt hat, weiß, daß ihr Dienst beginnt. Würdevoll postirt sie sich zu Häupten ihres Gebieters. Wider menschliches Erwarten wird aus dem projectirten ‚Nicken‘ unseres Bruder Studio ein solider Schlaf des Gerechten. Furchtlos und treu hält der Engländer die Fahnenwacht. –

Mittlerweile brummen die Kirchthürme zwei Uhr Mittags, und die schrille Hôtelglocke wird krampfhaft geläutet: das Zeichen für den Beginn der Table d’hôte. Die Fremdenzimmer des ‚Löwen‘ entsenden ihr Tagescontingent an Damen und Herren in den untadelhaftesten Toiletten in den Speisesaal. Aus der Stadt finden sich die ‚Abonnenten‘ ein, als da sind der Herr Obertribunalsrath X., der Herr Major Y., der Herr Hofopernsänger Z. und ähnliche Herrschaften von Distinction. Mißbilligende Blicke streifen den harmlosen Schläfer in der Ecke. Zuletzt betritt Papa Lehnert die ‚prangende Halle‘, um mit dem Anstande eines castilianischen Granden dem aufreibenden Amte des Präsidenten seiner Mittagstafel vorzustehen. Gemessen, aber wohlwollend gleitet sein Feldherrnblick über den weiten Saal. ‚Sieh’ da, einer von unsern braven Göttingern!‘ Aber schon im nächsten Momente verfinstern sich seine Züge, und seine Stirn legt sich in drohende Falten. ‚Ich glaube gar, der junge Herr schläft? – Bei Gott, er schläft. Hier, in meinem Speisesaale – während der Table d’hôte. Nein, da hört doch Verschiedenes auf. Jean!‘

‚Herr Lehnert?‘

‚Wecken Sie sofort den Herrn dort auf dem Sopha!‘

Gehorsam tänzelt der Herr Oberkellner, die Serviette unter dem Arme, auf den Schläfer zu. Als er sich ihm bis aus fünf Schritte genähert hat, richtet sich die Dogge drohend empor. Wie das Grollen des fernen Donners rollt es durch die geschlossenen Zähne:

‚Rrrrrrr ...‘

Erschrocken taumelt der Herr Oberkellner zurück, unschlüssig bald seinen Principal, bald den Hund anglotzend.

‚Schämen Sie sich, Jean! Sie sind ein Feigling. Ich muß also wohl selbst ...‘

‚Rrrrrrr ...‘

Auch der ‚Hessische Löwe‘ hält es für gerathen sich vor Alt-Englands offenbarer Uebermacht vorsichtig nach rückwärts zu concentriren. Aber auf seiner Stirn wird eine feine, röthlich schimmernde Ader sichtbar. ‚Scandalös!‘ zischt er halblaut durch die Zähne. ‚Vor meinen sämmtlichen Gästen! ... Scheren Sie sich hinaus, Jean! Im Hofe oder im Stalle wird Christian zu finden sein, er soll hereinkommen, auf der Stelle.‘

Der Hausknecht erscheint.

‚Christian, dort drüben aus dem Sopha ist ein Herr eingeschlafen, ein Student. Wecke ihn sofort!‘

Christian wischt sich die rothen Fäuste an einer fast ebenso rothen Hausknechtsschürze ab und steuert ziemlich beherzt auf den ominösen Tisch los.

‚Rrrrrrr,‘ sagt die Dogge, der offenbar das Ding mit der Zeit langweilig wird. Ihre funkelnden Augen spielen ins Grünliche; sie schreitet dem unberufenen Attentäter, der den Schlaf ihres Gebieters morden will, schlachtenmuthig ein paar Schritte entgegen. Das riesige Thier scheint in der That einige Vorkenntnisse von Kriegskunst zu besitzen. Es weiß, daß man unter Umständen die Vertheidigung eines Platzes durch Offensivstöße führt, und ist offenbar entschlossen, nunmehr seinerseits zum Angriff überzugehen.

‚Nein,‘ meint der verständige Knecht des Hauses, indem er, den Hund scharf im Auge behaltend, vorsichtig zurücktritt, ‚nein, hier ist Nichts zu machen. Ich kenne das. Es ist ein richtiger Engländer. Nein, hier ist absolutemang Nichts zu machen.‘

Inzwischen bilden sämmtliche Tischgäste, Herren wie Damen, in respectvoller Entfernung vom Kriegsschauplatze eine in zwei Parteien gespaltene Corona. Die Einen ärgern sich wüthend; die Andern schütteln sich vor Lachen. An der Spitze der Letzteren steht der Obertribunalsrath, ein jovialer alter Herr. Papa Lehnert knirscht vor Grimm mit den Zähnen und läuft in gelinder Verzweiflung auf und nieder.

‚Herr Lehnert,‘ docirt der wackere Christian fortfahrend, ‚ich sage Ihnen, ich kenne das. Als ich bei den Husaren stand, in Fulda, da hatte unser Rittmeister auch so eine Bestie. Nur daß diese hier noch ein hübsch Theil größer und stärker ist. Die Sorte geht auf den Mann, mir nichts, dir nichts. – Ja woll, Sie haben ganz recht, ich bin hier der Hausknecht, und Sie sind der Herre. Wenn Sie mir ’was befehlen, so muß ich gehorchen, denn so steht’s in unserm Contract. Aber davon, daß ich mir auf Ihren Befehl die Gurgel muß abreißen lassen, – hören Sie, – davon schreibt Paulus Nichts an die Corinther. Na, Nichts für ungut, ich gehe wieder in den Stall und will den Pferden aufschütten. Allerseits wohl zu speisen, meine Herrschaften!‘ – –

Die Sonne steht schon ziemlich tief; an die Stelle der tropischen Mittagsgluth ist eine verhältnißmäßige Kühle getreten. Es ist fünf Uhr Nachmittags. Bruder Studio erwacht aus seinem vierstündigen Schlaf sichtlich erquickt – er orientirt sich. Die Table d’hôte ist natürlich lange vorüber, aber an der weißgedeckten Tafel sitzt hinter einer weitbauchigen Terrine von grünem Glas ein halbes Dutzend älterer und jüngerer Herren in lebhafter Unterhaltung, Jünger Mercur’s, Geschäftsreisende in Wein und Rohtabak. Was sie trinken, ist Ananasbowle; was sie sich erzählen, sind Anekdoten von mehr oder weniger gemeinplätzlicher Färbung. Es wird wirklich die höchste Zeit, aufzubrechen. Langsam erhebt sich der Göttinger und verläßt, von der Dogge begleitet, die gastliche Halle. Im Hofe hält Christian den Braunen gesattelt und gezäumt in Bereitschaft, nimmt grinsend ein reichlich bemessenes Trinkgeld (die einzige baare Auslage, die der ‚Löwe‘ erfordert) in Empfang, und zwei Minuten später sind Roß, Hund und Reiter in der gegenüberliegenden Straße verschwunden.

Wie von drückendem Alp befreit, athmet das gesammte Hôtelpersonal auf. ‚Gottlob, daß sie fort sind! ’s war wirklich geradezu lebensgefährlich. Hol’ ihn der Geier, den infamen Köter. ....‘

Eine reichliche Viertelstunde mag verstrichen sein, als plötzlich in der Hausflur des ‚Löwen‘ ein schreckhafter Lärm hörbar wird. Man läuft; man schreit:

‚Jean, George, Gertrud, Christian! Geschwind, geschwind! Da kommt sie schon wieder, die verwünschte Dogge, da ... dort drüben.... Die Hausthür zu, um Himmelswillen!‘

Mit vereinten Kräften wird die massive Thür in’s Schloß geworfen und zu vermehrter Sicherheit mit dem nächsten besten Hausgeräth verbarricadirt. Halb neugierig, halb erschrocken stürzen die Herren Weinreisenden an die Fenster, um dieselben mit dem Instinct drohender Gefahr schon in der nächsten Secunde hermetisch zu verschließen.

Denn sie ist es wirklich.

Quer über den weiten Platz galoppirt in mächtigen Sätzen die Dogge und steuert geradewegs auf das Portal des ‚Löwen‘ los. Zwei wuchtige Pranken fallen dröhnend gegen die Hausthür. Sie giebt nicht nach; sie ist offenbar verschlossen. Fatal, sehr fatal! Ein kurzer Augenblick der Ueberlegung. Aber schon im nächsten Moment stürzt das Thier, rasch entschlossen, auf den freien Platz zurück, markirt durch Augenmaß eine Distance von etwa fünfzehn Schritt, nimmt einen gewaltigen Anlauf und saust, wenn nicht mit der Grazie, so doch mit der Bravour einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_305.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)