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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

eintrat, hat nur der in seinem ganzen Umfange empfinden können, welcher dies selbst erlebt hat.

Das Pudeln entwickelte sich übrigens aus dem einfachen Besorgen eines Auftrages bis zu staunenswerthen Leistungen des menschlichen Geistes in Umgehung von Schwierigkeiten, welche sich solchen gewünschten Besorgungen entgegenstellten. Der Pudel von einigem Werth mußte nicht nur ein vollendeter Schmuggler sein; er mußte außerdem auch mit der Schlauheit und Gewandtheit des Indianers zu „buschen“ verstehen, das heißt dem Verbot, ohne eine gewisse obrigkeitlicherseits erbetene Blechmarke „in die Stadt zu gehen“, ein Schnippchen schlagen können. Es liegt die Vermuthung nahe, daß dieses „Buschen“ eine praktische Verkürzung von „sich seitwärts in die Büsche schlagen“ ist.

Nach der Hausordnung wurde im Winter täglich um sechs, im Sommer schon um fünf Uhr früh aufgestanden. Zehn Minuten vorher erschien der Bedux als Wecker, indem er mit kräftigen Hammerschlägen gegen die Thür der Schlafzimmer schlug. Man hatte dem Manne nach und nach den Tonfall des Hexameters beigebracht, sodaß er im Stande war, ganz kunstgerecht einen solchen mit dem Hammer an die Thür zu schlagen. Der darauf passende Pentameter wurde zwar hin und wieder von den erweckten Schläfern mechanisch nachgesummt, es blieb indessen nicht aus, daß die Meisten sich auf die andere Seite herumlegten und ruhig weiter schliefen. Man sah sich daher genöthigt, eine lautschallende Klingel einzuführen, durch welche in der That ein günstigeres Resultat erzielt wurde. Wie in dem Liede: „Das Kind und die Glocke“, dachte ein jeder Langschläfer mit Schrecken: „die Glocke kommt gewackelt“. Eilig verließen wir daher bei ihrem Schalle das warme Bett und hüllten uns in die nothwendigsten Kleider, wobei der unvermeidliche Schlafrock eine große Rolle spielte. Der gute alte Schlafrock! Wie Vieles mußte er als Liebesmantel zudecken!

Punkt fünf, respective sechs Uhr, saßen wir am Arbeitstisch; freilich nicht immer vollzählig. So mancher der „Jünglinge“ streckte sich noch im Federbett; die „Kinder“ durften dies natürlich nicht wagen. Um nun diese Nachzügler davon in Kenntniß zu setzen, wenn der von Zeit zu Zeit inspicirende Lehrer im Anzuge war, gaben die unteren, oder nach Umständen die oberen Bewohner durch Klopfen ein rechtzeitiges Warnungssignal. Der in diesen Dingen jedoch hinlänglich gewitzigte Rector wußte seine Gänge so einzurichten, daß er den Langschläfern die schützende Bettdecke wegziehen konnte, noch ehe sie den Ruf: „der Papa kommt“ recht vernommen hatten.

Daß Morgenstunde Gold im Munde hat, wußen wir sonst gar wohl zu schätzen. So Mancher, der sorglos die sich häufenden Schularbeiten bis zum letzten Tage verschoben hatte, sah sich genöthigt, den Abend zuvor die ultima ratio des hülfebringenden Nachtwächters, „Nachtspuz“ genannt, welcher allabendlich den „Schnapper“ oder Tagwächter am Haupteingange ablöste, in Anspruch zu nehmen und unter Opferung eines Dreiers an die bekannte schwarze Tafel Eingang, Nummer des Zimmers, sowie die frühe Morgenstunde anzukreiden, in welcher der Faulenzer geweckt werden wollte. Eine am Kopfende des Bettes aufgepflanzte „Ballkeule“, ihrer eigentlichen Bestimmung nach zum Ballschlagen dienend, deutete dann dem pünktlich erscheinenden Hüter der Nacht den Arbeitsdurstigen an. Unsanft wurde der Betreffende zwar gerüttelt, ob er aber immer auch wirklich aufgestanden? Nicht immer. Gar mancher Dreier wurde umsonst hierfür ausgegeben.

Wenn man übrigens gegenwärtig allgemein so viel von Ueberbürdung mit häuslichen Schularbeiten spricht, so sei hier bemerkt, daß wir damals, vor dreißig Jahren schon, ein Lied davon singen konnten. Der Ordinarius der Tertia, ein alter bewährter Schulmann, hielt als obersten Grundsatz fest das „repetitio est mater studiorum“. Wir mußten nicht nur jede Woche ein Cicero-Capitel, zwanzig Homer-Verse, zwanzig Ovid-Verse, eine Seite Loci memoriales auswendig lernen, sondern auch das früher Gelernte nebenbei allwöchentlich wiederholen.

Nach Beendigung der ersten Morgenstudirstunde entwickelte sich auf Fluren und Treppen ein reges Leben. Kaum hatte der „Schnapper“ den bekannten Dreischlag mit der Glocke gegeben, da rannten die kleinen Pudels kopfüber mit ihren Kännchen, Gläsern und Töpfchen in der Hand zur „Hexe“. Diesen Namen führten, ohne Zusatz, jene drei Frauen im Parterre des zweiten, fünften und sechsten Eingangs, welche uns alltäglich mit Kaffee, Milch und Frühstück versorgten und das Unglaubliche möglich machten, für den späteren Verlauf des Tages alle Arten von Victualien in Portionen zum Preise von drei Pfennig zu zerlegen. Vermöge eines trefflichen Kaffeerecepts war es seit lange der Händlerin des zweiten Eingangs gelungen, die Frühstückskäufer fast ausschließlich in ihre Küche zu lenken, und hier entstand während einer Viertelstunde ein tolles Durcheinander. Jeder suchte dem Andern den Rang abzulaufen. Eine leichte Aufgabe war es auch für den armen gequälten Pudel nicht, alle die Aufträge richtig zu erfüllen. Der Senior wünschte schwarzen Kaffee mit geschmierten Semmel-Eckchen, der Subsenior den Kaffee weiß und dazu eine Reihe Brezeln. Ein Dritter hatte sich Milch bestellt mit ein paar Zwillingen oder Drillingen; ein Vierter wieder liebte Kümmel-Eckchen, trank aber ein Glas Wasser dazu. Trotz der mehrfachen Gehülfinnen, welche die gute Hexe sich zu diesem Zwecke angenommen, gelang es nur mit der größten Anstrengung, die kleinen Schreier nach Frühstück nach und nach zu befriedigen. Mit gefüllten Kannen und Gläsern, hochaufgethürmt darüber die verschiedenen Bäckereiwaaren, kehrte selbstbewußt der Pudel als Sieger aus dem Frühstückskampfe zurück; da kam um die nächste Ecke im eiligen Laufe ein etwas verspäteter Genosse ihm entgegengerannt und – pardauz, da lag die ganze Frühstücksbescheerung am Boden. Ein neuer Kampf begann. Wie ein paar Kampfhähne waren die Beiden im nächsten Augenblicke aneinander, um in einer unnützen Rauferei dem Gelächter der vorbeiziehenden, gleichfalls schwerbeladenen Cameraden zu verfallen.

Mittlerweile ging es am Röhrbrunnen, der nie versiechenden silberklaren Quelle, gleichfalls äußerst lebhaft zu. In langen Reihen standen sie hintereinander, die Custoden, jeder mit seinen Wasserkrügen in der Hand und strenge Wacht darüber haltend, daß keiner es wagte, außer der Reihe zum Brunnen heranzutreten.

Das Freistündchen war gar bald herum und das Wasch- und Reinigungsgeschäft kaum beendet, wenn die Glocke zur Schule rief. Nunmehr begannen die Bettfrauen, „Betthexen“ genannt, ihr Reinigungswerk in aller Hast, denn um zwölf Uhr, wenn die Schüler zurückkehrten, mußten die Zimmer alle wieder in Ordnung sein. Zur Mittagszeit wanderten vor den noch geschlossenen Thüren des gewaltigen Speisesaales etwa fünfhundert hungerige Magen auf und ab. Die Jünglinge hatten hier wieder allein das Privilegium, auf den breiten Quadersteinen in geschlossenen Reihen auf- und abzuspazieren, während die Knaben sich ungeordnet durch einander rechts und links daneben umhertummelten. Das einfache Besteck von Messer, Gabel und Löffel, welches jeder Neuling zum eigenen Gebrauche erhielt, war in vielen Fällen gar bald bis auf den Löffel reducirt. Es genügte auch, wenn nur dieser vorhanden war; an den meisten Tagen gab es doch nur etwas zu „löffeln“. Hier mußte in Wahrheit Hunger immer der beste Koch sein, denn die verschiedenen in der Küche vorhandenen Köchinnen hatten gar manchmal den Brei, wenn auch nicht verdorben, so doch recht unschmackhaft hergestellt. Was würde unsere verwöhnte Jugend heute dazu sagen, wenn sie wöchentlich einmal beispielsweise mit nichts als Brod und Kartoffelbrei regalirt würde, auf dem eine Schicht Hammeltalg in aller Eile zu gerinnen beflissen war! Es wurde mit dem ganzen Essen auch nicht viel Federlesen gemacht. Ein kurzes Gebet, dann ein heißhungeriges Schlürfen, wiederum ein Gebet und Gesang, und noch ehe eine Viertelstunde vorüber war, wanderten wir wieder mit dem „Gaul“ (Brodportion) in der Hand den Vorhof entlang. Dieser Gaul, dessen etymologische Abstammung mir stets unklar geblieben (etwa „Kaul“ für „Keil“?), spielte eine große Rolle, und wer ein „Eckchen“ bekam, der gehörte zu den vier Ersten an einem Tische. Jeden Abend um sieben Uhr wiederholte sich die Vereinigung im Speisesaale zum gemeinschaftlichen Essen. Außer Suppe erhielten wir den Nachtgaul und dazu ein „gleichschenkeliges Dreieck Butter“.

An zwei Abenden in der Woche war Kartoffelkrieg. Wir erhielten Franz Drake’s Urgewächs in Naturuniform. Wer am schnellsten greifen konnte, der war Sieger, denn die meisten der geschätzten Knollen wanderten in die Tasche. Und nun begann auf den Stuben ein Kochen und Braten, trotz Carcer und Hausgesetzen. In den verschiedensten Formen und Farben wurden die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_268.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)