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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

ich in einem vorigen Aufsatze sprach, oder gar Männchen und Weibchen eines Chondracanthus, deren Zusammengehörigkeit oder auch nur entfernte Verwandtschaft man niemals hätte ahnen können, wenn man sie nicht täglich constatiren könnte? Die Thatsachen lassen sich nicht leugnen, nicht wegdeuteln – aus zwei Eiern desselben Thieres, aus zwei vollkommen gleichen Nauplius, Geschwistern desselben Wurfes, entstehen zwei grundverschiedene Wesen. Und wer will behaupten, daß zwei einander nahe stehende Arten, die sich durch hundertfach geringere Unterschiede abgrenzen, als diese Geschwister verschiedenen Geschlechtes, nicht von derselben Stammform abgeleitet werden können, nur deshalb, weil man diese Ableitung nicht wirklich gesehen hat? Wahrlich, es ist kein Ernst in diesen Ableugnungen, und sie müssen Jedem verwerflich; ja selbst albern vorkommen, der die Thatsachen belauscht hat, wie sie sich zeigen, und die Umwandlungen, wie sie sich abspielen. Hätte man Männchen und Weibchen von Chondracanthus in verschiedenen Tümpeln gefunden, wie Damhirsch und Edelhirsch in verschiedenen Wäldern, so würde man von den beiden Formen des Chondracanthus ebenso bestimmt behaupten, sie könnten nicht von einem gemeinsamen Stamme abgeleitet werden. Und doch stammen sie von derselben Mutter, doch entwickeln sie sich aus derselben Grundgestalt.


Aus der Schule geplaudert.

„Fremdling! was Du erblickt, hat Glaub’ und Liebe vollendet.
Ehre des Stiftenden Geist, glaubend und liebend wie er!“


Wie rührend einfach klingen diese Worte, welche in alterthümlichen, goldenen Schriftzügen dem scheidenden Besucher der Francke’schen Stiftungen in der alten Saalestadt Halle von einer Ausgangstafel her entgegenleuchten, unter dem frischen Eindrucke jener Riesenschöpfung des alten Pietisten-Professors August Hermann Francke! Freilich war dieser nämliche Francke seinerzeit Mitveranlasser gewesen, daß der berühmte Philosoph Wolff vom Vater des großen Friedrich „wegen Gottlosigkeit“ bei Strafe des Stranges aus dessen Staaten verwiesen wurde! Angesichts aber der gewaltigen Räume und großartigen Anlagen dieser Erziehungs- und Waisenanstalt, welche eine seltene Energie der Menschenliebe und des Gottvertrauens geschaffen, überkommt jeden ein Gefühl der Ehrfurcht vor Eigenschaften des Mannes, welche besser waren als sein pietistischer Zeloteneifer.

Zu der bevorstehenden Pfingstzeit werden es nun volle hundertachtzig Jahre, daß diese Anstalt in’s Leben getreten, die sich mit ihrer Waisenpflege, ihrem auf Hunderte von Zöglingen berechneten Pensionswesen und mit der stattlichen Mannigfaltigkeit ihrer Schulen eines weithin reichenden, wohlklingenden Rufes erfreut. Im Jahre 1862, als man den zweihundertjährigen Geburtstag des Stifters festlich beging, ist über die Entwickelung seines Werkes und dessen jetzigen Bestand so viel geschrieben worden, daß man Eulen nach Athen tragen würde, wollte man jetzt in der „Gartenlaube“ das Bekannte wiederholen. Aber einem alten Zöglinge des „Waisenhauses“ – wie die ganze Anstalt kurzerhand genannt wird – schweben ganz andere Dinge noch vor, als etwa der würdige Inhalt eines Conversations-Lexicon-Artikels über den Gegenstand berührt, wenn er der Stiftungen Francke’s gedenkt: kurzweilige, harmlos-lustige Dinge, Genrebilder von unerfindlicher Drollerie, an denen sein Herz mit Empfindungen hängt, welche aus Liebe, Rührung und innigem Behage gemischt sind.

Und die Ueberschrift, welche diesen ganzen Bilder-Cyclus zusammenfaßt, heißt: Ein Schülerstaat.

Verfasser dieses Aufsatzes begann seine Schülerlaufbahn auf den Francke’schen Stiftungen Ende der vierziger Jahre und hat die damaligen inneren Zustände der Anstalt, welche wahrscheinlich von den jetzigen wenig verschieden sind, während seines achtjährigen Aufenthaltes gründlich kennen gelernt. Es sei ihm vergönnt, von dem Leben in dem Schülerstaat, in dem er gelebt hat, einiges „aus der Schule zu plaudern“.

Zu der eigentlichen gut bürgerlichen und von dem damals noch bestehenden aristokratischen Pensionat des „Pädagogiums“ unterschiedene, speciell sogenannten Pensionsanstalt, in welcher zwei- bis dreihundert Schüler Wohnung haben, führten und führen heute noch der dritte, vierte und fünfte Eingang des einen Kolossalbaues im Innern der Stiftungen. In jedem dieser Eingänge liegen bis zum fünften Stock hinauf durchschnittlich zwanzig Zimmer, je vier auf einem Flur. Von den zwei- bis dreihundert Pensionsschülern trägt jeder seine „Pagina“, unter welcher er in des Hausinspectors Hauptbuche verzeichnet steht, und er heißt für den Letzteren gewöhnlich nur „Pagina so und so“.

Unter den Eingängen war der dritte unter uns der am wenigsten beliebte. Zur ebenen Erde lagen hier die Bedux-(Bedienten) Zimmer und jene Anstalt, in welcher der „alte Hupe“ inmitten einiger Wasserbütten und des sonst erforderlichen Apparates die obligatorische eigenhändige Kopfsäuberung der jüngeren Generation beaufsichtigte. Trotz seiner großen, gelben Thalerbrille wurde dem Manne doch dann und wann ein X für ein U gemacht und von Säumigen in der letzten Stunde, des Sonnabends, bevor die Quittung über erfüllte Pflicht zum Hausinspector wanderte, flugs zwei Striche hinter den Namen in die Liste geschmuggelt, zum Zeichen, daß eine zweimalige Reinigung erfolgt sei.

Der vierte Eingang war schon ein wichtigerer. Hier wohnte der gefürchtete Hausinspector, der im Dienst ergraute, auf strenge Hausordnung haltende Dr. N.

Der fünfte Eingang war für diejenigen Schüler bestimmt, deren Eltern finanziell zu den besser Situirten gehörten. Der zweite oder Condirector der Anstalt, zugleich Haupt der Pensionsanstalt und Rector der Latina – ein bekannter, von unbedingter Ehrfurcht und Liebe der Schüler getragener Philologe, welcher einfach „der Papa“ hieß, – hatte hier seine Wohnung, und auf den Schülerzimmern waren nur je fünf einquartiert, während in den Stuben der beiden erstgenannten Eingänge meist neun Schüler wohnten. Außerdem hatten noch in jedem Eingange zwei bis drei Inspectionslehrer Dienstwohnung.

Strenge Zucht und Ordnung war die officielle Losung auf unserer Pesionsanstalt. An jeder Thür der Schülerwohnungen waren die zwölf Sätze angeschlagen, deren Uebertretung den Frevler in einzelnen Fällen auch mit „Carcer“ bedrohte. Zu diesen Fällen gehörte das Verbot für: Rauchen, Kartenspielen, Kochen und Braten, sowie das unerlaubte Ausgehen zur Stadt. Wozu wären aber die Gesetze, wenn sie nicht übertreten werden sollten? Wir dachten dies zwar kaum, aber wir thaten es doch so oft!

Viel wichtiger erschienen uns die Gesetze, welche die Schüler von Alters her sich selbst gegeben hatten, und die, fortlebend von Generation zu Generation, mit einer, man könnte sagen, rührenden Pietät im Kreise der Schüler bewahrt wurden.

Der alte Dr. L. bediente sich bei seinen Vorträgen der stereotypen Anrede: „Geliebte Jünglinge und Kinder“. Dieser Bezeichnung entsprechend, fand ein gewaltiger Unterschied zwischen „großen“ und „kleinen“ Schülern statt. Eine weite Kluft trennte beide. Bis zur Quarta waren die „Kinder“ Pudel, das heißt sie mußten den „Jünglingen“ allerlei Gänge für des Leibes Nahrung und Nothdurft besorgen, „Custos“ spielen, will sagen: Trink- und Waschwasser herbeischleppen, Tische abfegen und sonstige kleine Reinigungsdienste verrichten. Wollte ein Pudel während der „Studirstunden“ das Zimmer verlassen oder, nachdem er die Schularbeiten beendet, ein Lesebuch vornehmen (schmökern), dann mußte erst der „Senior“ oder in dessen Abwesenheit der „Subsenior“ der Stube um Erlaubniß hierzu gefragt werden. Dabei wurden die Kinder von den Jünglingen mit „Du“ angeredet, mußten diese aber umgekehrt „Sie“ nennen. Hatte man den bedeutungsvollen Sprung um die „Majorsecke“ gemacht und war Tertianer geworden, so änderte sich mit einem Schlage Alles. Befreite die untere Tertia zunächst von den bisherigen Pflichten, so gingen auf den Obertertianer sofort sämmtliche Rechte über, welche die „Großen“ der Anstalt für sich in Anspruch nahmen. Er konnte „pudeln lassen“, durfte nach den Gesetzen, die sich die Schüler selbst gegeben, die ersten Versuche des Rauchens machen, sich beim beliebten Scatspiele betheiligen, natürlich auf seine eigene Verantwortung und die Gefahr hin, beim „Gefaßtwerden“ in das Carcer zu spazieren. Mit welchem wohlthuenden Gefühle der Tertianer in diese „höheren Regionen“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_266.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)