Seite:Die Gartenlaube (1878) 224.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Georg zog die Uhr und warf einen Blick darauf. „Verzeihe! Ich muß jetzt in die Kanzlei. Unsere Bureaustunde beginnt bald. Von drei Uhr an aber bin ich frei und suche Dich dann sofort auf. Soll ich Dich nach Deinem Gasthofe bringen?“

Der junge Arzt zog es vor, seinen Freund nach dem Regierungsgebäude zu begleiten, und die Beiden machten sich auf den Weg. Sie schritten in lebhaftem Gespräche durch die Straßen und holten am Fuße des Schloßberges den Hofrath Moser ein. Dieser wohnte zwar im Regierungsgebäude selbst, pflegte aber Morgens, vor Beginn der Bureaustunden, einen Spaziergang zu machen, von dem er jetzt eben zurückkehrte. Er schritt wie gewöhnlich langsam, steif und feierlich dahin, das Kinn in die weiße Halsbinde vergraben, und erwiderte mit vieler Würde den Gruß seines jungen Untergebenen.

„Sie sehen angegriffen aus, Herr Assessor,“ sagte er in wohlwollendem Tone. „Sogar Excellenz haben das bemerkt und sprachen mit mir darüber. Excellenz meinten, Sie arbeiteten zu viel und würden damit Ihre Gesundheit untergraben. Man kann auch des Guten zu viel thun; Sie sollten sich schonen.“

„Das predige ich meinem Freunde oft genug,“ fiel Max ein, aber immer ohne Erfolg. „Erst heute, am frühen Morgen, habe ich ihn wieder vom Schreibtische aufjagen müssen. Er schlägt all meine ärztlichen Rathschläge in den Wind.“

„Sie sind Arzt?“ fragte der Hofrath; er erwartete offenbar eine Vorstellung des ihm gänzlich unbekannten jungen Mannes.

„Mein Freund, Doctor Brunnow,“ sagte Georg. „Herr Hofrath Moser.“

Der Hofrath tauchte plötzlich aus seiner weißen Halsbinde empor. „Brunnow – Brunnow,“ wiederholte er.

„Ist Ihnen der Name bekannt, Herr Hofrath?“ fragte Max ruhig.

Aus dem Gesichte des alten Herrn war alles Wohlwollen verschwunden; es prägte sich eine Art von Entsetzen darauf aus, als er in scharfem Tone erwiderte:

„Der Name ist in früheren Zeiten oft genannt worden, zuerst bei der Rebellion, dann vor den Gerichten und später auf der Festung, bei der Flucht eines Gefangenen. Ich hoffe, Sie stehen in keiner Beziehung zu jenem Doctor Brunnow, den ich meine.“

„Doch,“ sagte der junge Arzt mit einer sehr artigen Verbeugung, „in der allernächsten. Doctor Brunnow ist mein Vater.“

Der Hofrath wich schleunigst einige Schritte zurück als müsse er sich vor einer etwaigen Berührung in Sicherheit bringen. Dann wandte er dem jungen Manne den Rücken und concentrirte seinen ganzen entsetzensvollen Zorn auf Georg.

„Herr Assessor Winterfeld,“ begann er in verachtendem Tone, „es giebt Beamte – sogar ganz tüchtige und fähige Beamte – die gleichwohl die erste und heiligste Pflicht des Staatsdieners nicht kennen oder nicht kennen wollen, die Loyalität. Kennen Sie solche Beamte?“

Georg gerieth in einige Verlegenheit.

„Ich weiß nicht –“

„Nun, ich kenne sie,“ sagte der Hofrath mit einer unheimlichen Feierlichkeit, „und ich beklage sie, denn sie sind meist nur das Opfer der Verführung und des bösen Beispiels.“

Der junge Beamte runzelte die Stirn; er war allerdings an ähnliche salbungsvolle Predigten seines Vorgesetzten gewöhnt, aber jetzt, in Gegenwart seines Freundes, fühlte er doch das Peinliche derselben und erwiderte daher gereizt:

„Seien Sie überzeugt, Herr Hofrath, daß ich meine Pflichten kenne, aber darüber hinaus –“

„Ja, ich weiß, die jungen Herren sind sämmtlich Weltverbesserer und halten es für charaktervoll, Opposition zu machen,“ unterbrach ihn Moser, der es sehr liebte, die Worte seines Chefs, die für ihn Orakelsprüche waren, bei passender und unpassender Gelegenheit anzubringen, „aber das ist gefährlich, denn die Opposition führt schließlich zur Revolution, und die Revolution,“ der Hofrath schauderte, „ist etwas Schreckliches.“

„Etwas sehr Schreckliches, Herr Hofrath!“ sagte Max mit Nachdruck.

„Finden Sie das?“ fragte Moser, etwas aus der Fassung gebracht durch diese unerwartete Zustimmung.

„Ganz unbedingt, und ich finde es überdies sehr verdienstlich, daß Sie meinem Freunde in’s Gewissen reden. Ich habe es ihm auch oft gesagt; er ist lange nicht loyal genug.“

Der Hofrath stand ganz starr bei diesen mit unverwüstlicher Ernst gesprochenen Worten. Er war im Begriff zu antworten, vergrub aber plötzlich sein Kinn in die Halsbinde und nahm eine devote Haltung an.

„Seine Excellenz!“ sagte er halblaut und zog ehrfurchtsvoll den Hut.

Es war in der That der Gouverneur, der vom Schlosse kam und sich zu Fuße in die Stadt begab. Er erwiderte den Gruß der Herren in seiner kühlen abgemessenen Weise, streifte mit einem flüchtigen Blicke den jungen Brunnow und wandte sich dann zu Moser.

„Gut, daß ich Sie treffe, lieber Hofrath! Ich wollte Ihnen noch etwas mittheilen – begleiten Sie mich auf einige Minuten!“

Der Hofrath schloß sich seinem Chef an und Beide schlugen die Richtung nach der Stadt ein, während die beiden jungen Männer ihren Weg nach dem Schlosse fortsetzten.

„Das ist also Euer Despot?“ fragte Max, als sie außer Hörweite waren. „Der vielgeschmähte und vielgefürchtete Raven! Eine imponirende Erscheinung ist er – das muß man ihm lassen. Eine Haltung und ein Anstand, die einem Fürsten gar nicht übel stehen würden, und dazu dieser Herrscherblick, mit dem er mich streifte. Man sieht es, der Mann versteht zu befehlen.“

„Und zu unterdrücken,“ setzte Georg mit Bitterkeit hinzu. „Davon haben wir erst kürzlich wieder eine neue Probe erhalten. Die ganze Stadt ist in Gährung wegen der unerhörten Polizeimaßregeln, die er über sie verhängt hat. Er will mit Gewalt die Opposition niederschlagen, die sich immer mächtiger und drohender zu regen beginnt. Es ist ein Schlag in’s Gesicht, den er der gesammten Bürgerschaft versetzt.“

„Und die guten Bürger von R. lassen sich das ruhig gefallen?“

Georg warf vorsichtig einen Blick um sich. Der Weg war völlig leer und das Gespräch sicher vor unberufenen Ohren; dennoch senkte der junge Mann die Stimme.

„Was sollen sie denn thun? Etwa rebelliren gegen den von der Regierung eingesetzten Gouverneur? Das würde die schwersten Folgen nach sich ziehen, und doch handelt es sich vielleicht nur darum, dieser Regierung die Wahrheit zu enthüllen und all die Willkür, all die Gewaltacte, mit denen ihr Vertreter seine Vollmacht mißbraucht, vor dem ganzen Lande aufzudecken. Geschähe dies, dann müßte sie ihn fallen lassen.“

„Oder sie beseitigt statt dessen den unbequemen Warner. Es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas geschieht, und dieser Raven sieht nicht aus, als ob er sich leicht stürzen ließe; mindestes reißt er in seinem Sturze alles ihm Feindliche mit sich hinunter.“

„Und doch muß es früher oder später geschehen,“ sagte Georg entschlossen. „Es wird sich doch endlich ein Muthiger finden!“

Der junge Arzt stutzte und richtete einen forschenden Blick auf seinen Freund. „Der willst Du doch nicht etwa sein? Sei kein Thor, Georg, und wirf Dich nicht allein für alle Anderen in die Schanze! Es kann Dich Stellung und Existenz kosten, und überdies – hast Du vergessen, daß der Freiherr der Vormund Deiner angebeteten Gabriele ist? Wenn Du ihn reizest, so hat er Mittel genug in Händen, Dein Lebensglück auf immer zu vernichten.“

„Er wird es ohnehin thun,“ versetzte Georg düster. „Er wird jedenfalls versuchen, seine Mündel bald und glänzend zu vermählen, und sobald er erfährt, daß ich es bin, der dabei im Wege steht, habe ich Alles von ihm zu gewärtigen.“

„Und mit dem ist sicher nicht leicht kämpfen,“ fiel Max ein. „Ich begreife es, daß Du ihn in doppelter Beziehung hassest.“

„Hassen? Ich bewundere Vieles an ihm, und die Stadt und die Provinz danken ihm Vieles. Seine mächtige Energie hat überall neue Hülfsquellen aufgedeckt, überall neue Kräfte erweckt und dienstbar gemacht, aber er hat auch mit eiserner Hand jede Freiheitsregung niedergehalten und erstickt. Die Reactionsperiode verdankt ihm ihre schlimmsten Triumphe.“

„Sie geht ja jetzt zu Ende,“ warf Max ein.

„Ja, Gott sei Dank – sie geht zu Ende. Das alte System wankt bereits in all seinen Fugen und seine Diener suchen einzulenken, nur zu retten was noch zu retten ist. Nur Raven allein hält noch mit starrer Consequenz fest an der Vergangenheit; er läßt sich nicht die geringste Nachgiebigkeit, nicht das

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_224.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)