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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

wurde, gerieth er in Sorge, das Uebel möchte wiederkehren und von Stunde an trat es wieder auf.

Selbst beim Clavierspiel stand einer meiner Patienten unter diesem Banne. Er sah den schwierigen Tact immer vorher, und wenn er ihn spielen sollte, waren die Finger förmlich steif und es war ihm unmöglich, eine Taste anzuschlagen. Aehnliche Erfahrungen übrigens wird Mancher gemacht haben, wenn er als hoffnungsvoller Sohn des Hauses vor einer größeren Gesellschaft hat vorspielen sollen. – Ein Russe stotterte – wenn man will – beim Schreiben. Er war jeden Augenblick genöthigt, die Tinte von der Feder zu spritzen, bisweilen drei- bis viermal hintereinander, bevor er fähig war, den Buchstaben, den er schreiben wollte, hinzusetzen.

Die widersprechendsten Erscheinungen erklären sich aus dieser potenzirten Befangenheit. Es kommt lediglich darauf an, welche Umstände der sensitiven Natur des Stotterers ein ängstliches Vorgefühl heraufführen oder auf ihn ermuthigend wirken. Der Eine spricht nicht bei der Begrüßung, wenn er angesehen wird; der Andere gerade, wenn dies nicht geschieht. Der Erstere wird durch den Blick des Partners angefeuert und vorwärts getrieben, der Letztere gehemmt. Ebenso sprechen die Meisten im Dunkeln gut, bei Licht schwer. Aber auch das Umgekehrte findet sich. Ein Patient versicherte, bei zunehmender Dämmerung im Kreise seiner Familie fast gar nicht sprechen zu können, sowie aber ein Zündholz aufflackere, sei der Bann von ihm genommen. Im Ganzen fällt das Sprechen schwerer vor Fremden, als vor Bekannten, unter harmlosen Verhältnissen leichter, als unter peinlichen. Aber die Angst kann auch hier unter Umständen belebenden Einfluß ausüben. Wie sie in Gefahr oft zu übermenschlicher Kraftanstrengung befähigt, wie nach Herodot der Sohn des Krösus durch die Angst um das Leben des Vaters seine Sprache wieder erlangt haben soll, so glückte es einem meiner Patienten, sowohl beim Confirmationsexamen in dicht gedrängter Kirche, wie beim Abiturienten- und Staatsexamen fast oder ganz fließend sich zu äußern. Ein Anderer stotterte in ganz fremder Gesellschaft fast gar nicht. Die Angst vor Beschämung trieb ihn vorwärts, sowie aber nur ein Wort mißglückt war, fehlte das treibende Moment: er war beschämt, und in Reaction gegen den vorangegangenen Affect trat nun das Gebrechen um so heftiger hervor.

Versucht man nun, ausgehend von der psychischen Ursache des Leidens, die daraus resultirenden Störungen des physiologischen Apparates festzustellen, so ergiebt sich aus der Vergleichung der normalen und abnormen Erscheinungen, des fließend Redenden und des zum Stottern Disponirten, Folgendes: Jeder, der sprechen will, beabsichtigt einen erzeugten Gedanken durch Worte darzustellen. Dem Entschlusse zur unmittelbaren Ausführung der Absicht folgt mittelst der Nervenleitung der telegraphische Befehl an die verschiedenen Muskelgruppen, aus deren Zusammenwirken das Wort und der Satz resultirt. An der Unfähigkeit dieser Muskulatur liegt aber, wie wir gesehen haben, das Mißlingen des normalen Sprechens nicht, mag der Sprachorganismus auch noch so complicirt und seine Thätigkeit eine noch so verwickelte sein. Die mechanische Sprachfertigkeit fehlt ja dem Stotterer nicht; die Grundursache, daß er sie nicht überall betätigen kann, liegt also weiter zurück. Sie liegt in dem Schwanken des Entschlusses, hervorgerufen durch den fast zur fixen Idee gewordenen Gedanken, nicht sprechen zu können, und dem damit verbundenen Angstgefühl, vornehmlich beim Beginne der Rede, bei starken Stotterern auch im Verlaufe des Sprechens. Dieses Schwanken hat zunächst die unregelmäßige Functionirung der Nervenleitung und in Folge dessen die des Muskelapparates zur Folge. Das Stottern wird hervorgerufen durch eine Functionsstörung desjenigen Nervenapparates (Ganglienzellenapparates), welchen man sich nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft als den Sitz des Willens vorzustellen pflegt. In dem Augenblicke, in welchem man das gefürchtete Wort nicht aussprechen zu können glaubt, reflectiren diese Nerven auf diejenigen Nerven im verlängerten Rückenmarke, welche den Muskelbewegungen der Sprachwerkzeuge vorstehen, und von diesen werden genau die Bewegungen ausgeführt, welche man gedacht hat, ausführen zu sollen. Der Wille, zu sprechen, setzt sie in Thätigkeit, in demselben Augenblicke hält sie die Scheu aber wieder zurück.

Die Unentschlossenheit und Angst läßt den Leidenden nicht ruhig respiriren; der Athem stockt oder vibrirt; der Kehlkopf verliert damit die Grundbedingungen seiner Action; er sucht das Ausbleiben seines Lebenselementes durch heftige, krampfhafte eigene Arbeit zu ersetzen, die aber gerade die Vernichtung der normalen Functionirung herbeiführt, welche leicht und spielend die Worte bildet. Diese Störung reflectirt energisch auf die Sprachorgane der Mundhöhle, macht oft die Thätigkeit derselben unmöglich, sowie der Kehlkopf sich ganz schließt, und es tritt jenes Würgen ein, oder aber der Luftstrom zieht unregelmäßig und hastig durch den Kehlkopf, und dann folgt ein Ueberstürzen der folgenden, oder das Repetiren einer einzelnen Silbe. In dieser Beklemmung scheut sich auch der Patient, den Mund aufzuthun; der locale Spielraum, aus dem die Organe die verschiedensten Stellungen und Actionen einzugehen haben, wird unnatürlich verengt, und die Formationen und ihre Uebergänge werden unnatürlich erschwert.

Endlich sei über das Heilverfahren Einiges erwähnt. Vor Allem muß ich hervorheben, daß ich nach Erfahrung und Studium ein geschworener Gegner der bisher noch so vielfach üblichen sogenannten Tact- und künstlichen Respirations-Methode bin, wie sie von Professor Merkel, welcher bis an sein Lebensende stotterte, Leweß, Dr. Klenke, Günther und Anderen beschrieben worden ist und bis heute von fast allen Lehrern für Stotternde ohne wesentliche Verbesserungen angewandt wird. (Dr. Klenke in Hannover beansprucht zur Heilung des Stotterns [siehe Klenke, die Heilung des Stotterns, Leipzig 1863] einen Aufenthalt von wenigstens zwanzig Wochen in seiner Pensionsanstalt und warnt in seinem bekannten Hauslexikon die Stotterer vor denjenigen Lehrern, welche ihnen versprechen sie in vier Wochen von ihrem Uebel zu befreien. Mein Vater und ich haben nun während unserer Praxis eine Anzahl Schüler dieses Herrn kennen gelernt, welche nicht zwanzig Wochen, sondern sieben Monate bis ein Jahr und darüber hinaus sein Institut frequentirt hatten, und nach dieser Cur nach wie vor stotterten.) Ich will mich hier principiell in keine weitere Polemik einlassen; diejenigen der geehrten Leser, welche die Tactmethode kennen, die obigen Ausführungen gelesen haben und eine fließende unbefangene Redeweise als Resultat der Heilung verlangen, werden meine Gegnerschaft verstehen. In neuerer Zeit haben Heilkünstler versucht, Medicin, Tropfen dreimal täglich verordnet, bestehend aus rectificirtem Spiritus, Chloroform und Pfefferminzöl zur Anwendung zu bringen. Außerdem wird dem Patienten Rücken, Brust und Bauch mit einer fettigen Substanz eingerieben. Selbstverständlich verurtheile ich auch dieses Verfahren. Will man damit eine psychische Einwirkung erzielen und eine Veranschaulichung des Satzes: Der Glaube kann Berge versetzen – in Scene setzen?

Bezüglich der Mittheilung der Grundsätze eines rationellen Heilverfahrens lege ich mir, sofern es sich um die Behandlung des ausgebildeten Leidens handelt, absichtlich die größte Zurückhaltung auf – aus zwei Gründe: Erstens, will ich nicht Veranlassung geben zu den unglücklichsten Selbstversuchen. Es liegt meiner Erfahrung eine zu große Blumenlese von derartigen Experimenten vor. Einer meiner Patienten, der vor Allem auf Selbsthülfe hielt, versuchte zuerst nach Art des Demosthenes in’s Reine zu kommen. Auf dem Gymnasium stotterte er fast gar nicht; seine Lehrer bemerkten das Uebel nicht; denn er sprach ganz fließend, auch in längeren Ausführungen, oder glaubte er einmal, nicht vorwärts zu können und schwieg er, wie ein Unwissender oder Trotziger, dann mochte auch der Unwille der Lehrer erregt werden. Die Universitätsjahre wollte er sich nicht durch das Uebel verbittern lassen; er suchte daher die Tiefen des Kottenforstes bei Bonn auf, um mit Kieseln im Munde etc. sich zum athenischen Volksredner auszubilden. Er verschlimmerte damit das Uebel bedeutend. Später hörte er etwas von meinem Heilverfahren; er griff die Fragmete zu geeigneter Verwendung begierig auf, um tiefer und tiefer sich in das Uebel zu verstricken.

Verkehrte Uebungen erschweren die Heilung unendlich. Darum auf diesem Gebiete keine Selbsthülfe! Es kommt hinzu, daß die erforderlichen Uebungen sich mit der nöthigen Genauigkeit nicht beschreiben lassen, am wenigsten in einer kurzen Abhandlung; sie müssen, sollen nicht die verderblichsten Mißverständnisse eintreten, von einem Lehrer, welcher selbst gestottert hat, gezeigt werden. Der zweite, und zwar der Hauptgrund meiner Reserve aber ist der, daß die Uebungen allein nach aller Erfahrung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_214.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)