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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

sich ergiebt, unter Aufmerksamkeit Aller allein zu sprechen, stocken sie. Ein Gymnasiallehrer, den ich behandelte, pflegte beim Beginn des Diners schnell mehrere Gläser Wein zu trinken; dann sprach er lebhaft und fließend. Ein Student konnte in angeheitertem Zustande fließend lange Reden halten. Der Erstere hielt wiederholt öffentliche Vorträge; kurz vorher – in Privatunterhaltung – stotterte er noch ganz bedenklich; sowie er auf der Tribüne stand, war jedes Hemmniß verschwunden. Officiere, die ich behandelte, stockten, mit Ausnahme eines, niemals beim Commandiren, im hohen Grade aber bei kurzen Rapporten. Dieser eine, ein nicht unbedeutender Stotterer, stotterte gar nicht, so lange er mit einem Tafelmesser spielte. Nahm er statt dessen ein anderes Messer, so trat Stottern wieder ein.

Es giebt Fälle, daß hochgradige Stotterer gewisse Buchstaben oder Wörter überhaupt nicht aussprechen können; diese sind zugleich Stammler. Solche Mängel aber lassen sich durch mechanische Sprachübungen unter richtiger Leitung leicht beseitigen und sollen darum hier nicht in Rücksicht gezogen werden. Im Uebrigen aber ist allen gemeinsam, daß sie in der Einsamkeit ganz oder fast fließend lesen, sprechen, nach ihrer Vorbildung selbst glänzende Reden halten können, sowie aber ein Zuhörer in Person oder auch nur in ihrer Einbildung sich einfindet, stocken sie.

Außerdem lehrt die Erfahrung: je ruhiger und bestimmter der Stotterer sich ausdrücken soll, desto mehr macht ihm sein Uebel zu schaffen; je lauter und mit je freierer Wahl des Ausdrucks, um so weniger. Im Ganzen fällt ihm das Sprechen des Morgens schwerer, als des Abends, bei großer Ermüdung tritt aber des Abends das Uebel noch stärker hervor. Jede Gemüthserregung übt Einfluß: niederdrückende Affectionen einen ungünstigen, aufstrebende Affecte, Zorn, Unwille, lebhafte Freude etc. einen günstigen.

Das Uebel nimmt, sich selbst überlassen, nach meinen statistischen Aufzeichnungen zu und tritt häufiger auf bis zum dreißigsten Lebensjahre. Darüber hinaus nimmt es dem Grade und der Häufigkeit nach ab.

In der von meinem Vater im Jahre 1826 zu Burgsteinfurt gegründeten Anstalt befanden sich bis heute neunhundertfünfundachtzig Stotterer, von welchen neuhundertsiebeundvierzig im Alter bis zu dreißig Jahren und nur achtunddreißig das dreißigste Lebensjahr überschritten hatten.

Bei den im Auslande (Schweden, Norwegen, Dänemark, Rußland, Italien, Oesterreich, der französischen Schweiz) von mir behandelten Stotterern war das Verhältniß ungefähr dasselbe. Der Grund ist leicht zu erkennen. Je mehr der Verstand und die ästhetischen Gefühle sich entwickeln, desto mehr wächst das Schamgefühl über das Gebrechen; je abhängiger sich der Leidende von bestimmten Factoren seiner Laufbahn fühlt, desto zaghafter macht ihn sein Leiden. Beide Momente verstärken sein Leiden. Je mehr aber jene Empfindungen von einem Gefühl des eigenen Wertes, innerer Sicherheit und freierer Lebensstellung zurückgedrängt werden, desto mehr tritt auch das Uebel zurück. Wenn einer meiner Patienten, ein Forsteleve, auch vor seinem Jagdhund zu stottern sich nicht entwöhnen konnte, so findet sich bei der Mehrzahl doch die Erscheinung, daß sie Kindern, Verwandten und Freunden gegenüber weniger oder gar nicht stottern, um so mehr aber in Gegenwart von Vorgesetzten und – jungen Damen.

Was die Quelle des Uebels angeht, so war dasselbe in den meisten von mir beobachteten Fällen erblich und häufig zurückzuführen bis auf die Urgroßeltern. Moses Mendelssohn war Stotterer; in der folgenden Generation trat das Uebel nicht auf, wohl aber in der dritten und vierten. Mein Vater stotterte bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre. Durch Willeskraft und Uebung befreite er sich von dem Uebel; er verheiratete sich in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahre. Zwei meiner Geschwister und ich haben gestottert, obwohl wir nie Gelegenheit gehabt haben, mit Stotterern zu verkehren.

Im Jahre 1873 meldete sich bei mir in Kopenhagen ein Mann, Namens Denhardt, nebst zwei seiner Kinder, welche stotterten. Nach kurzer Unterredung mit ihm stellte sich heraus, daß er selbst auch anstieß; ebenso auch vier seiner übrigen Kinder. Der Namensvetter stammte aus Thüringen, woher mein Großvater gleichfalls gebürtig war, und es liegt die Vermuthung nahe, daß diese Familie der meinigen entfernt verwandt ist. Viele Herren, welche mir ihre Kinder brachten, litten ebenfalls früher an dem Uebel; durch Willenskraft wollten sie es dann überwunden habe. Sie bestanden die Probe übrigens oft recht schlecht; wenn sie sich gerade entfernen wollten, rief ich ihnen unerwartet nach: „Darf ich noch einmal um Ihren werthen Namen bitten?“ In fast allen Fällen verfielen die Herren dann in ihren alten Fehler; sie errötheten und konnten nur mit Mühe und unter häufigen Stocken ihren Namen hervorbringen. Weniger ihre Willenskraft als der psychische Einfluß ihrer wachsenden Selbstständigkeit war wohl die Ursache der Abnahme ihres Leides.

Das Stottern tritt beim weiblichen Geschlechte seltener auf als beim männlichen. Bei der Zusammenstellung der von mir behandelten Stotterer ergab sich das Verhältniß von 1:8. Bei Kindern und Personen bis zum zwanzigsten Lebensjahre, bei welchen die Disposition zum Stottern vorhanden ist, wird dasselbe am häufigsten durch starke Nervenaffectionen bei Krankheiten, Scharlachfieber, Masern, oder durch Erschrecken, Fall und Schlag auf den Kopf hervorgerufen. Die beiden einzigen Fälle meiner Erfahrung, in denen das Leiden nach dem zwanzigsten Lebensjahre eintrat, waren: der eine bei einem Eisenbahnbeamten, den die Entgleisung seines Wagens in die höchste Gefahr brachte, der andere eine Folge des Typhus. – Ein großes Contingent Leidender schaffen sicherlich die Ammen und Kindermädchen, welche die Kinder, um sie zur Ruhe zu bringen, ängstigen. Hierfür spricht schon die Thatsache, daß das Uebel in den unteren Volksschichten viel seltener auftritt. Dagegen habe ich die Behauptungen der Herren Klenke und Lichtinger nicht zutreffend gefunden, daß Scropheln und Eingeweidewürmer die Ursache des Gebrechens sein sollten. In meiner Familie z. B. finden sich diese Erscheinungen gar nicht.

Die Grundursache des jedesmalige Stotterns ist jedenfalls der Gedanke, stottern zu müssen, verbunden mit einem dem Stotterer eigenthümlichen Angstgefühl und der Furcht vor der Aussprache bestimmter Buchstaben und Wörter. Analogien liegen nahe: Ein plötzlich heranrollender Wagen raubt Manchen die Fähigkeit, auszuweichen. Er will forteilen; die Angst lähmt ihn. Eine Kraft zieht ihn vorwärts – die andere rückwärts: er kommt nicht von der Stelle. – Der Bürgermeister einer rheinischen Stadt begann seine wohlstudirte Rede beim Empfang einer fürstlichen Person mit den Worten: „Gemeine Bande“… „umschließen den Fürsten und sein Volk,“ wollte er sagen. Allein die Angst hielt ihn fest, bis der hohe Herr ihm die Schulter klopfte mit den Worten: „Lassen’s gut sein, Herr Bürgermeister! Es war wohl nicht so schlimm gemeint.“ Diese Befangenheit, die viele hochgestellten Personen gegenüber befällt, in potenzirtem Grade ist auch die Grundursache des wirkliche Stotterns. Der starke Stotterer hat zuerst die größte Angst jedesmal vor dem Moment, in dem er in die Weltgeschichte eingreifen soll, nämlich vor dem ersten Worte einer noch so unbedeutenden Bemerkung, welche die Aufmerksamkeit eines Anderen auf ihn lenkt. Ist der große Schritt aber gelungen und der Zuhörer in die Aufmerksamkeit auf seine Worte eingeführt, so fühlt jener sich unbefangener, und er benutzt die gewonnene Lage gern zu langen Excursen. Die knappe Dialogform, mit kurzer Rede und Gegenrede, ist ihm verhaßt. Liest er einen Satz vor, so schweift sein Auge schnell voraus, um einen schwierige Laut zu erspähen und sich innerlich auf denselben vorzubereiten. Je näher er dem betreffenden Worte kommt, desto größer wird seine Angst. Unmittelbar vor demselben bricht er ab; er kann nicht weiter, lediglich darum, weil er glaubt, nicht weiter zu können. Hätte er vorher nicht daran gedacht, so würde er unbefangen darüber hinweggekommen sein.

Ich lernte mehrere Stotterer kennen, welche nur an diesem Angstgefühl litten, bei welchen das Stottern, aber nie zum Ausbruch gekommen war. Eine Dame brachte in Frankfurt am Main ihr sechsjähriges Töchterchen zu mir, das bisher nur wenig gestottert hatte, plötzlich aber nach dieser Consultation in hohem Grade das Uebel zeigte. Der Grund war unzweifelhaft der, daß das Bewußtsein, zu stottern, stärker in dem Kinde erwacht war, es sich nun vorher ängstlich besann und darum desto mehr stotterte. – Ein Arzt hatte das Gebrechen ganz überwunden als er nach Jahren bei dem zufälligen Wiederholen

eines Wortes von einem Freunde darauf aufmerksam gemacht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_213.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)