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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Keinen Stachel und keinen Schatten von Verbitterung hat diese überaus trübe Kindheit, welcher ebenso peinvolle Lehrjahre folgten, in Roberts Herzen zurückgelassen. Er hat daraus nur eine eiserne Charakterstärke und Willenskraft gewonnen, eine Aufopferungsfähigkeit, die keine Grenzen kannte, wenn das Gebot der Liebe sie ihm zur Pflicht machte.

Hans Blum.





Ein Dornröschen der Cultur.
Von Auguste von Roeßler-Lade.

Viele Jahrhunderte hindurch wurde die Nessel nicht nur in Deutschland, sondern weit über seine Grenzen hinaus als eine Nutzen bringende Pflanze geachtet. Ihr Anbau trat zwar nur in einzelnen Erscheinungen zu Tage und wurde nur hier und da systematisch gepflegt. Einige Nesselarten werden noch bis heute in Amerika und Nordasien mit besonderer Aufmerksamkeit cultivirt, um aus ihrem Materiale allerlei Nutzen gewährende Gegenstände für’s bürgerliche Leben zu gewinnen.

Abgesehen davon, daß sich die Nessel als Gespinnstpflanze, als Futterpflanze in praktischer Hinsicht bewährt und die Vergangenheit als redendes Zeugniß zur Seite hat, ist sie auf medicinischem Boden schon längst existenzberechtigt und nimmt keineswegs, wie es auf den ersten Blick den Anschein gewinnen könnte, eine ausschließlich verachtete Stelle ein, wurde sie ja doch selbst für wunderthätig gehalten.

Mehr vielleicht, als jede andere Pflanze, war unsere Nessel dazu berufen, eine große Rolle in der Volkspoesie, Volksphantasie und dem Volksglauben zu spielen. Ich erinnere nur an die Sage von der Entdeckung der Nesselfasern. Ein böser Vormund wollte das Glück seiner Mündel nicht eher krönen, als bis sie aus einem am Wege stehenden Unkraute – er deutete dabei auf die Brennnessel – sich ihr Brautkleid selbst gesponnen und gewebt habe. Die Arme eilte mit schwerem Herzen in ihr Kämmerlein, warf sich vor dem Bilde der Mutter Gottes in die Kniee und bat innig um Hülfe. Ermattet schlief sie ein. Da öffnete sich ihr im Traume der Himmel, und zwei Engel schwebten zu der Schlafenden hernieder, nahmen sie bei der Hand und geleiteten sie zu dem verhängnißvollen Nesselstrauche. Hier unterwiesen sie die Maid, daß sie, so lange noch der Thau auf der Pflanze liege, dieselbe ungefährdet ernten könne, zeigten ihr, welche wunderbare Fasern der Stengel in sich birgt, lehrten sie diese Fasern spinnen, weben und bleichen und sich daraus ihr Brautkleid fertigen. Als das Mägdelein erwachte, dankte sie der heiligen Jungfrau aus tiefstem Herzensgrunde und ging sofort an das Werk. An dem Tage, an welchem sie ihre Arbeit vollendet, starb der böse Vormund eines jähen Todes, und die Liebenden wurden vereint. Das Geheimniß aber, welch feinen, im praktischen Leben zu verwerthenden Faden die Nessel in sich birgt, war entdeckt und wurde viele Jahrhunderte hindurch bei nothwendiger Pflege und zweckentsprechender Behandlung zu Nutz und Frommen der Menschheit getreulich gehandhabt.

Ebenso bekannt dürfte wohl das Märchen von den sieben Raben sein, nach welchem die stumme Königin sieben Hemden aus Nesseln spinnen mußte, um ihre Brüder zu entzaubern und ihre Sprache wieder zu gewinnen.

Es ist wirklich unbegreiflich, daß eine Pflanze, welche Jahrhunderte lang solche Verehrung gefunden, wie die Nessel, in Vergessenheit, sagen wir, sogar in die tiefste Verachtung gerathen konnte, sodaß man ihrer nur als des schlimmsten Feindes gedachte und sich alle Mühe gab, sie auszurotten, wo sie nur ihr Haupt erhob. Es könnte dem aufmerksamen Beobachter fast der Gedanke kommen, als ob die Nessel die zerstörende Hand des Menschen ermüden und dadurch den letzteren auf den ihr innewohnenden Werth hinlenken wollte, weil sie so schwer und erst nach mühevoller Kriegsarbeit die Stätte räumt, auf welcher sie sich einmal ansässig gemacht hat. Man sollte glauben, daß sie des Fußes spotte, der sie niedertritt, weil sie jedesmal mit erneutem Muthe das gesenkte Haupt wieder erhebt, oder wenigstens durch neue Triebkraft in Seitenästen ihr kümmerliches Dasein zu fristen sucht. Man sollte wähnen, daß sie damit dem undankbaren Sterblichen ihre permanente Dankbarkeit zu zeigen trachte, daß sie keine besondere Pflege als als unerläßliche Bedingung ihrer Existenzfähigkeit kategorisch beanspruche, wie ihre zahllosen Schwestern, die dem Erzieher so manchen Schweißtropfen auspressen und doch hier und da die auf ihre Pflege verwendete Mühe kaum oder höchst spärlich lohnen.

Sie ist nicht lüstern nach guter Bodenbeschaffenheit und begnügt sich fern von der menschlichen Verkehrsstraße mit der Einsamkeit in feuchten Walddistricten oder unfruchtbaren Triften, aber mit der nicht anzutastenden Willenserklärung, hier, wo sie einmal festen Fuß gefaßt hat, auszuharren, und mit der gegen sie angriffsweise vorgehenden Menschenmacht einen Krieg auf Leben und Tod zu bestehen, bis sie schließlich, von der Uebermacht überwältigt, den Platz räumen muß.

In neuerer Zeit jedoch ist es anders geworden, denn die ganze Welt redet von Nesseln und Nesselzucht, und es scheint der Zeitpunkt nicht mehr fern, wo die bisher verachtete und in Wahrheit mit Füßen getretene Pflanze zu nie gesehener Ehre erhoben werden soll. Die Landwirthe wenden ihr die Aufmerksamkeit zu und erhoffen, wenn die Nesselcultur systematisch und mit Eifer betrieben wird, eine ergiebige und werthvolle Ernte. Die Industriellen hören schon in ihrem regen Geiste ihre Webstühle klappern, um Nesselgespinnst aller Art zu verfertigen, vom feinsten Kleiderstoff bis zum Segeltuch und Schiffstau herab. Auf allen landwirthschaftlichen Vereinen wird die Cultur der Nessel auf die Tagesordnung gebracht, und es werden Mittel und Wege berathen, um der gegenwärtig vielfach darnieder liegenden Industrie durch Beschaffung eines bisher unbeachteten Erwerbszweiges neuen Boden zu beschaffen und neue Bahnen für ihre weitverzweigte Thätigkeit zu eröffnen. Die gelehrte Herren vom Katheder preisen in ihren Hörsälen das neuerstandene Dornröschen, welches vor mehr denn hundert Jahre durch den Stich einer englischen Spindel in Schlaf verfallen.

Und sie haben Alle Recht, die Landwirthe, wenn sie im Blick auf die wieder aufgenommene Nesselcultur hoffnungsvoll in die Zukunft sehe, die Industriellen, wenn sie für’s praktische Leben der Natur abgewinnen, was bisher unbeachtet in der Ecke stand, und die Gelehrten, wenn sie mit Untersuchungen und Experimenten auf theoretischem Wege der Praxis zu Hülfe kommen. Sie Alle betonen, wenn auch aus verschiedenartigem Gesichtspunkte, wie aus einem Munde: „Das Geschlecht der Urticeen soll und muß auferstehend wieder zu Ehren kommen und seine Kronen segnend über die Menschheit ausbreiten.“

Welchen nicht auszudenkenden Vortheil für Palast und Hütte gewährt doch ein regelrecht betriebener Anbau von Flachs und Hanf! Man überlege die Mannigfaltigkeit ihrer Production von den gröberen Waaren des Seilers bis zu dem feinen Pechdraht des Schusters und dem so viel wirkenden Zwirn der Nähterin, von dem starken Packtuch des Kaufmanns bis zu dem feinsten Battist der Edelfrau!

Eine gleiche Beachtung verdient die Nessel, welche sich in den Dienst der verbrauchenden Menschheit stellt und an ihrem Theile beitrage möchte, Arbeit und Verdienst für viele that- und rathlose Hände der Gegenwart zu schaffen. Welch ein weites Feld von Arbeit und Verdienst öffnet sich vor unserem Blicke, wenn das wieder erwachte Werk der Nesselzucht gedeiht und überzeugende Erfolge liefert!

Die Nessel gewährt, bis sie zu brauchbaren Gegenständen verwendet wird, gar manchem Verdienstlosen Verdienst und manchem Industriellen neue Quellen für zu erwerbenden neuen Wohlstand. Im Frühling baut sie der Landmann an; der Sommer bleicht sie mit Hülfe der Wasserstrahlen unter der Sonne, nachdem sie gebrecht, gehechelt und gesponnen worden – wer kann die Momente, wer die Geschäfte, wer die Hände alle nennen, welche wesentlichen Nutzen und Gewinn aus einem rationellen Betriebe der Nesselpflanze zu ziehen berufen sind!

Ihre nicht wegzuleugnende Nützlichkeit und das gewaltige allgemeine Interesse, welches dieser in Rede stehenden Cultur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_202.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)