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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

nach ein Mann von der „berittenen Bürgerwehr“, an das linke Ufer: „Heda! halt! was quält Ihr Euch bei die Hitze? Ich reite voraus nach Spandau und rapportire, ob die Waffenschiffe noch zu erreichen sind; in einer Viertelstunde bin ich zurück.“ Der Vorschlag fand Beifall; vertrauensvoll und in blöder Jugendeselei gingen wir in eine plumpe Falle. Winkte zur Linken doch gastlich das alte Schützenhaus, gegenwärtig und zwar schon seit zwanzig Jahren eine Zündspiegelfabrik. Mit Hurrah wurde gelandet; die Boote wurden auf den Strand gezogen. Bald sprudelte schäumend der heißersehnte Gerstensaft in den vor uns stehenden Gläsern, und es rollten die Kugeln, aber nicht aus der friedlich an der Wand lehnenden Büchse, sondern auf der staubigen Kegelbahn. Unsere biederen „Rehberger“ schliefen nach saurer Arbeit im Grase den Schlaf des Gerechten, und bald war niedere und höhere Politik, bald waren auch die Waffenschiffe sammt Berlin und der ganzen Welt vergessen. Der Wonne des Augenblicks hingegeben, genügte es den Jünglingen, Freunde unter Freunden, des Lebens Unverstand in holdem Leichtsinn zu genießen. Sie beachteten gar nicht, daß Viertelstunde auf Viertelstunde, daß Stunde auf Stunde verrann, ohne daß jener „Berittene“ zurückkehrte, auch hörten sie nicht die Signalschüsse von den Wällen der Festung, nicht den dumpfen Trommelwirbel, der von Charlottenburg herüberdröhnte. Während sie aber hier in sorgloser Selbstvergessenheit den Freuden des Landlebens und der allergemüthlichsten Kneipseligkeit sich hingaben, hatte der „Berittene“, auf den sie eigentlich warteten, ein großes Werk vollführt.

Seines Zeichens war er, wie ich später erfuhr, ein Glasermeister aus Charlottenburg mit Namen Lüdé, der wohl ursprünglich Lude geheißen hat. Ob dem Manne der Traum von einem zukünftigen Hofglasermeister zu schaffen machte, darüber war man in seiner Heimath nicht einig. Gewiß nur ist, daß er an jenem Nachmittage nach Spandau sprengte und dort meldete: „Das ganze Studentencorps ist zu Wasser und zu Lande im Anmarsch gegen die Festung; die Vorhut hat den Bock occupirt; Rehberger schleichen sich in hellen Haufen durch die Jungfernhaide und den Grunewald heran; die Berliner Bürgerwehr steht unter Waffen – man will sich durch einen Handstreich der Festung bemächtigen.“

Kein Gerücht war so unglaublich, daß es nicht dazumal seine Gläubigen gefunden hätte; die Phantasie befand sich bei aller Welt in aufgereiztester und unablässiger Thätigkeit; zur nüchternen Erwägung des Thatsächlichen und Möglichen war nirgends die ruhige Stimmung vorhanden. Es war daher kein Wunder, daß Herr Lüdé, der sich auch wohl kaum einer absichtlichen Lüge schuldig machte, mit seiner Schreckenskunde ganz Spandau zu alarmiren, vermochte. Dann flog er auf seinem Rappen nach Charlottenburg zurück. Hier fand er den Boden schon vorbereitet für seine Saat; er hatte nur nöthig, noch etwas Oel in das schon hell flackernde Feuer zu gießen.

Wer jemals in Berlin gewesen ist, wird wohl auch das nur eine Stunde davon entfernte Charlottenburg kennen. Die Stadt hat sich in der letzten Zeit merkwürdig gehoben und gewährt jetzt mit ihrer intelligenten und strebsamen Bevölkerung ein ganz anderes Bild als vor dreißig Jahren, wo sie, in Betreff der größeren Zahl ihrer Einwohner, ein recht verkommenes und fast unheimliches Anhängsel der Hauptstadt war. Immer gierige Ansprüche hungerigen localen Eigennutzes bargen sich hier hinter dem Aushängeschilde jener schamlos augendienerischen, mit heuchlerischer Frömmelei verbrämten Bedientenhaftigkeit, die damals noch als „Patriotismus“ und „Königstreue“ sich breit machen konnte. Bessere Elemente waren allerdings vorhanden, aber sie schlossen sich hermetisch ab oder hatten ihren geselligen Schwerpunkt in Berlin. Viele Bewohner, Namen von aristokratischem Klange, lebten notorisch von höherem Bettel, und neben den eingeborenen Ackerbürgern bevölkerten dunkle Existenzen jeder Art die ungepflasterten, Abends nicht einmal von einer Oellampe beleuchteten Straßen des Ortes, der sich im Wettstreit mit Potsdam das „preußische Versailles“ zu nennen liebte. Wir würden dies nicht berühren, wenn sich aus diesem Geiste nicht die Opposition erklärte, welche das kleine Nachbarnest im Jahre 1848 in allen den Fällen zu machen wagte, wo diese Kriegslust sich hinlänglich gedeckt glaubte. Denkwürdig ist in dieser Hinsicht ein ebenso ernster wie komischer Vorgang.

Als, in der Revolutionsnacht vom 18. zum 19. März einige hundert bürgerliche Gefangene, gebunden, zum größeren Theil mehr oder weniger schwer verwundet, von Berlin nach Spandau transportirt wurden, waren die begleitenden Soldaten kaum und zum Theil gar nicht im Stande, ihre Gefangenen gegen die schändlichsten Angriffen und Mißhandlungen des Janhagels zu schützen, so lange der traurige Zug die Straßen Charlottenburgs passirte. Schon am nächsten Tage aber, als der Wind von Berlin ganz anders wehte, und die schnell freigelassenen Gefangenen wiederum durch Charlottenburg zogen, überstürzte man sich hier dergestalt mit revolutionären Kundgebungen und überschüttete die „edlen Kämpfer und Befreier“ dermaßen mit Ovationen, Liebesgaben, feierlichsten Ansprachen und sonstigem Schwindel, daß die Berliner, wie gestern vor den Mißhandlungen, so heute vor den Liebeshudeleien sich kaum zu retten vermochten. Trotzdem verblieb den Charlottenburgern das böse Gewissen des Kleinen, der den Großen gereizt hat. Während des ganzen Sommers peinigte sie die Furcht: die Berliner und zumal die Studenten, deren sich auch zwei oder drei in jenem traurigen Gefangenenzuge befunden hatten, würden eines Tages in Masse heranrücken, um jene nächtliche Heldenthat blutig zu rächen.

Als Herr Lüdé an jenem letzten Maitage von Spandau nach Charlottenburg zurücksprengte, um hier seine Mitbürger zu den Waffen zu rufen, da hatte diese schon lange die Schreckensnachricht aus dem Nachmittagsschlummer aufgerüttelt: „Die Studenten haben drei oder vier Waffenkähne geplündert; von zwei Seiten, zu Wasser und zu Lande, ziehen sie gegen die offene, wehrlose Stadt.“ - Unsäglich war der Wirrwarr des Tumults und der tragikomischen Scenen, welche folgten. Trommelwirbel Straße auf, Straße ab; Gekreische der Weiber in den Häusern und auf den Gassen, rührende Abschiedsthränen; in die Luft gefeuerte Schüsse, um durch den Knall den Muth zu beleben. Die Väter der Stadt stürzen ohne Hut nach dem Rathhause, nach dem Marktplatze die Männer der Bürgerwehr in ihrer mannigfaltigen Bewaffnung und in ihrem lächerlich bunten Aufputze. Neben ihnen und zwischen ihnen der nichtuniformirte Haufe mit Dreschflegeln, Piken, Heugabeln, selbst Bohnenstangen in der Faust, ein wahres Heer von Don Quixoten. Da die Garnison, zwei Schwadronen der Garde-du-Corps, bei dem allgemeinen Spectakel ebenfalls alarmirt war, die Stadt nach Spandau hin, wo nach Herrn Lüdé’s Bericht die feindliche Hauptmacht concentrirt war, demnach hinlänglich gesichert schien, so wurde im Kriegsrath auf dem Wilhelmsplatze einhellig beschlossen, die Hauptmacht der Bürgerwehr nach der entgegengesetzten Seite zu werfen. Todesmuthig rückte dieselbe in ihre Stellung, um die Canalbrücke, dort, wo heute die beiden Chausseehäuser stehen, gegen den von Berlin anrückenden Feind zu decken. Schweigend standen sich die Feinde gegenüber. Diesseits des Canals erwartungsvoll mit pochendem Herzen ein zitterndes Pfahlbürgerthum; jenseits, wie Pfähle steif, nur dumpf murmelnd – die Bäume und menschenleeren Gänge des Thiergartens.

Ohne jede Ahnung der gewaltigen Dinge, die rings umher sich ereigneten, und der schweren Gewitterwolken, die von Ost und West über ihrem Haupte sich sammelten, lagen inzwischen die Mitglieder der großen Expedition im Grase des Schützenhauses und pflogen Raths. Der Zweck des Argonautenzuges war verfehlt; dafür lachte aber der Mai so einladend; der Tag war einmal „angerissen“ – was sollte man Besseres thun, als ihn im Schatten des nahen Grunewalds zu beschließen? So fand denn Qualm’s Vorschlag allgemeine Zustimmung: „Die Boote kehren mit den Rehbergern zurück, und zwar haben selbige in angemessener Entfernung von einander den Rückzug anzutreten. Natürlich werden diese Bürger morgen in der Aula für ihre uneigennützige Arbeit aus der Corpscasse anständig entschädigt. Die Studenten aber machen mit den Schützenbrüdern, die sich ihnen anschließen wollen, eine Spritzfahrt durch den Grunewald nach dem Pichelswerder.“ – Gedacht, gesagt und gethan. Bald lag das alte Schützenhaus still hinter den Davonziehenden, nur Einer blieb zurück, und dieser Eine war ich. Das Loos des Memoirenschreibers zwingt mich von mir selber zu sprechen.

Ich blieb also allein zurück. Schreiben wir nicht den 31. Mai, und feiert nicht eine liebe Schwester heute in Charlottenburg ihren Geburtstag? Waren nicht im stillen Pfarrgarten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_189.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)