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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

glaubte, so steigt vor unserer Erinnerung eine ganze Reihe von Bildern und Scenen auf, von verschollenen und wenig bekannten Vorgängen, die nicht blos an sich selber interessant, sondern immerhin auch charakteristisch sind für manche Seite der gewaltigen Ereignisse. In meiner ersten Skizze habe ich ein düsteres Ereigniß aus den ersten Stunden der jungen Freiheit geschildert. Was ich dagegen in dem Nachfolgenden erzähle, das wird eher wie ein humoristisch-idyllisches Märchen klingen aus längst entschwundener Vergangenheit. Nichts destoweniger war es einst volle, von mir selbst erlebte Wahrheit.




Am letzten der schönen Maitage jenes wunderholden Frühlings von 1848 waren längst alle Knospen gesprungen; der Thiergarten strahlte in reichster Blätter- und Blüthenpracht; in seinen Gebüschen jubelte der Fink, flötete die Amsel, und in dem Ufergesträuch gen Moabit klagte die Nachtigall, ungestört von dem wuchtigen Gedröhne des nahen Borsig’schen Dampfhammers. Ich wandelte die große Charlottenburger Chaussee entlang nach dem Brandenburger Thore zu. Männer der Bürgerwehr lehnten dort als Wachtposten an den dorischen Säulen. In dem bunten Wogen und Treiben Unter den Linden und in den Gesichtern der Vorübergehenden fesselte heute wieder einmal ungewöhnliche Aufregung meinen Blick, je weiter ich diese stolzeste und prächtigste aller Straßen herabkam. Am Ende derselben wälzte sich in heftigen Zorngeberden und wirrer Declamation ein dichter Menschenknäuel um die Ufer des Kupfergrabens, wo derselbe unter der Schloßbrücke den Lustgarten vom Zeughause scheidet. „Verrath!“ „niederträchtige Hinterlist!“, „das darf das Volk nicht dulden,“ „Unsere Waffen!“ – so schwirrten die Rufe hin und wieder.

In der Mitte der verschiedensten dichtgedrängten Gruppen halten Jünglinge und Männer der fliegenden Corps, Studenten, Handwerker und Bürgerschützen, von lautem Beifallssturme oder tosendem Wuthgeschreie begleitete Redeübungen. Bald war ich von der Thatsache unterrichtet, welche die mit Recht mißtrauisch gewordene Menge zu so stark sich äußernder Wuth aufgestachelt hatte, und ich selbst war in meinem neunzehnjährigen Studentenherzen gleichfalls auf das Tiefste entrüstet. Bei Nacht und Nebel, unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses und ohne die Erlaubniß des Volkes einzuholen, hatte man sich nämlich „von oben her“ unterfangen, das Zeughaus auszuräumen und Gewehrladungen auf Spreekähnen nach Spandau zu verschiffen. Die Absicht lag für alle hier Versammelten klar zu Tage: Berlin sollte entwaffnet, bei dem im Bunde mit den Russen geplanten Feldzuge wehrlos den conservativen Hinterpommern in die Hände fallen. Das Geheimniß aber war von den wachsamen Augen der „Revolution“ entdeckt worden. Da lag ja nun der jedes Zweifels spottende Beweis vor Aller Blicken. Hundert und aber hundert schwielige Hände entladen mit Ameisengeschäftigkeit einen großen Spreekahn, der unter unverdächtiger Hülle von Brennholz die kostbare, zur Abfuhr schon während der Nacht vorbereitete Fracht barg. Und schon waren mehrere Kähne mit gleicher Ladung – so lautete die Mär – die Spree abwärts geschwommen. Schnell mußte dieser Gefahr durch die Entschlossenheit des Volkes gesteuert werden, und ein „Verräther“ und „Reactionär“ wäre ja Derjenige gewesen, welcher in jenen Monaten einem zufällig gerade zusammen gelaufenen aufgeregten Haufen hätte bestreiten wollen, daß er „das Volk“ und zum eingreifenden Handeln und Verfügen berechtigt sei. Also auf denn zur That!

Fünf Studenten von der „Rotte“, der anzugehören ich die Ehre hatte, unter ihnen der hochgewachsene, urkomische „Qualm“, der jetzt von seinen Heldenthaten auf einer einsamen Landpfarre träumt, daneben ein Dutzend büchsenbewaffnete Männer des Schützencorps vertheilten sich in schnell requirirten Booten. Ein jeder von uns übernahm die Führung und das Commando eines solchen Nachens, und bald schwamm diese Flotille, jedes Fahrzeug außer dem Capitain mit acht bis zehn Arbeitern, „Bassermann’schen Gestalten“ aus den Reihen der sogenannten „Rehberger“, bemannt, unter kräftigen Ruderschlägen und dem Zujauchzen des Pöbels einem merk- und denkwürdigen Abenteuer entgegen.

O, es war eine Fahrt voll tollsten poetischen Jugendübermuthes, nur begreiflich aus der Zeit, die sie überhaupt möglich machte. Nicht der leiseste Zweifel an der vollen Rechtmäßigkeit ihres Mandats, nicht die geringste Besorgniß vor etwaiger polizeilicher Hinderung ihres wahnwitzigen Unternehmens trübte den Eifer und heiteren Thatendurst dieser modernen Spree-Piraten, die auszogen, um auf offenem Wasser an „königlichem Gute“ sich zu vergreifen. Am Garten des Schlosses Monbijou verließ die Flotille den Kupfergraben und tauchte in die Fluthen der Spree. Auf den Brücken innerhalb der Stadt wimmelte es von Bürgern und Bürgerinnen, die mit wehenden Tüchern Gruß und Ermunterung winkten. Schon am Unterbaume eröffnete sich der Schauplatz unserer Thaten. Hier trafen wir die ersten Spreekähne, die sich träge durch die dicken, mit Grundsuppe gesättigten Gewässer des dortigen Flusses schleppten. Wie elend war es damals noch in jener jetzt so hocheleganten Gegend! Noch gemahnte dort keine Alsen-, keine Sadowabrücke, noch keine Moltke-, Roon- und Bismarck-Straße an die herrlich entfaltete Kraft des deutschen Vaterlandes.

„Halt!“ und nochmals „halt!“ donnerte es aus unseren Booten hinter den verdutzt aufschauenden Schiffern, denen wegen der Neuheit des Falles die langen Stoßruder im Schlamme stecken blieben. Diese bekanntlich sonst durchaus nicht gefügigen Menschen sahen sich umzingelt und gehorchten wirklich in ihrer Verblüffung.

„Zwei Studenten und sechs Bürger an Bord! – Habt Ihr Waffen geladen?“

„Nee – Kartoffeln.“

„Das kennen wir schon – dort Holz und hier Kartoffeln. Noch zwölf Bürger an Bord! Die Kartoffeln umgeschippt!“

Man schippte und schippte. „Qualm“, mein theurer Stubenbursche, Contreadmiral bei dieser nautischen Expedition, durchstöberte die Kajüte und die Kojen, kroch in den Kielraum, untersuchte den Mast, den er für eine kolossale Bonbonhülse zu halten schien – Alles umsonst. Die Fracht war und blieb die prosaische Kartoffel, für unsern romantischen Heißhunger eine gar magere Kost. „Alle Mann in die Boote, vorwärts!“

Ein anderes Schiff in Sicht – neue Untersuchung; wieder fruchtlos. Noch eine Zille, wieder ein Spreekahn. Der Maitag und die Arbeit waren heiß, alle Mühe verschwendet. Kartoffeln, Holz und Kohlen, Heu, Ziegelsteine, sogar eine Ladung getragener und verschlissener Kleidungsstücke, überall gehorsame Schiffer und nirgends eine Spur von Waffen! Trotz allen fruchtlosen Suchens aber und des immerhin etwas heikeln Geschäfts glitten wir in heiterster Laune die Spree weiter abwärts, den „Zelten“ im Thiergarten vorüber und den Geländen des Thiergartens. Bald spiegelte sich Schloß Bellevue in der schon etwas geklärten Fluth; unter der Brücke Moabits glitten wir hinweg, und hell leuchtete in der Ferne die Kuppel des Charlottenburger Schlosses mit ihrem als Wetterfahne sich drehenden heiligen Michael oder Gabriel.

Nichts hatte bis zu dem Weichbilde dieser kleinen Nachbarresidenz unseren Frohsinn und Muth gebeugt; doch als wir die Brücke passirten, welche aus der Stadt neben dem Schloßgarten zur Moabiter Chaussee führt, da tauchte zum ersten Male eine leise Ahnung in unserem Geiste auf, daß wir uns nicht mehr in Freundesland, ja kaum noch auf neutralem Boden bewegten. Auch diese Brücke war von einer dichten Volksmenge besetzt, aber kein Tücherschwenken, kein Jubelgeschrei empfing hier die Flotille wie in Berlin. Mit düsterem Schweigen sah man uns erscheinen und weiterziehen. Der letzte der herrlich belaubten Baumriesen, die lauschigen Schattenwege des Schloßgartens lagen hinter uns; vor uns zur Linken tauchte der „Spandauer Bock“, das wohlbekannte Wirthshaus auf der Höhe, zur Rechten der lange Saum der sanftaufsteigenden Jungfernhaide hervor, und in sonniger Ferne, inmitten der wasserreichen Wiesen, ragte drohend und warnend – ein böses Omen – die Citadelle von Spandau. Dicht vor derselben, noch sehr weitaus, durchfurchten einige Schiffe mit gespannt sich bauschenden Segeln die Fluth, doch bis zum „Bock“ hin und noch weiter hinaus zeigte sich kein Fahrzeug den nach Beute spähenden Blicken. Heißer und heißer brannte die Nachmittagssonne; weit hinter uns lag das Schutz und Hülfe gewährende Berlin, das jedes Haar auf unserem Haupte gezählt hätte – in unseren Seelen dämmerte leise eine Ahnung auf.

Da sprengte ein Reiter auf schäumendem Roß, dem Abzeichen

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