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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Mädchens war von einer unbewußten, natürlichen Grazie; die schlanke Gestalt in dem weißen Morgenkleide gaukelte wie ein Lichtstrahl zwischen den dunklen Bäumen auf und nieder. Die eine der schweren, blonden Flechten hatte sich bei dem übermüthigen Spiel gelöst und sank in ihrer ganzen reichen Fülle über die Schulter, während das frohe Lachen und der Jubel der Kinder bis hinauf zu den Fenstern des Schlosses drang.

Die dort stehende Baronin entsetzte sich freilich über diese Formlosigkeit, und das um so mehr, als sie sah, daß der Freiherr die Scene dort unten unverwandt beobachtete. Was mußte der stolze, etiquettenstrenge Raven von der Erziehung einer jungen Dame denken, die sich vor seinen Augen solche Freiheiten herausnahm! Die Baronin fürchtete jeden Augenblick eine der gewohnten scharfen Aeußerungen ihres Schwagers vernehmen zu müssen und bemühte sich, den üblen Eindruck so viel wie möglich zu verwischen.

„Gabriele ist bisweilen noch unglaublich kindisch,“ klagte sie. „Es ist ganz unmöglich, ihr begreiflich zu machen, daß sich dergleichen Kindereien für eine junge Dame ihres Alters nicht schicken. Ich fürchte beinahe ihren Eintritt in die Gesellschaft, der durch den Tod des Vaters noch um ein Jahr hinausgeschoben wurde. Sie ist im Stande, dergleichen Zwanglosigkeiten auch auf das Salonleben zu übertragen.“

„Lassen Sie doch dem Kinde seine Unbefangenheit!“ sagte der Freiherr, ohne den Blick von der Gruppe abzuwenden. „Sie wird noch früh genug lernen, Weltdame zu sein; jetzt wäre es wirklich schade darum – das Mädchen ist ja der verkörperte Sonnenstrahl.“

Die Baronin horchte auf. Es war das erste Mal, daß sie einen wärmeren Ton von den Lippen ihres Schwagers hörte und in seinem Auge etwas Anderes sah, als eisige Zurückhaltung. Er fand offenbar Wohlgefallen an dem Uebermuthe Gabrielens, und die lange Frau beschloß, das sofort zu benutzen, um über einen Punkt in’s Klare zu kommen, der ihr sehr am Herzen lag.

„Mein armes Kind!“ seufzte sie mit gut gespielter Rührung. „Es eilt noch so sorglos durch das Leben und ahnt nicht, welche ernste, vielleicht traurige Zukunft ihm aufbehalten ist. Ein armes Fräulein! Das ist ein bitteres Loos, doppelt bitter, wenn man, wie Gabriele, mit Hoffnungen und Ansprüchen an das Leben erzogen ist. Sie wird es bald genug empfinden lernen.“

Das Manöver glückte wider alles Erwarten. Der sonst so unzugängliche Raven schien augenblicklich in ungewöhnlich nachgiebiger Stimmung zu sein, denn er wandte sich um und sagte rasch und bestimmt:

„Was sprechen Sie denn von einer traurigen Zukunft, Mathilde? Sie wissen ja, daß ich kinderlos und ohne eigene Verwandte bin. Gabriele ist meine Erbin, und da kann von Armuth füglich nicht die Rede sein.“

Ein Blitz des Triumphes leuchtete in den Augen der Baronin, als sie endlich die so lang ersehnte Gewißheit erhielt.

„Sie haben sich bisher noch nie über diesen Punkt ausgesprochen,“ bemerkte sie, mühsam ihre Freude verbergend, „und ich wagte ihn begreiflicher Weise nicht zu berühren. Die ganze Sache lag mir überhaupt so fern – “

„Sollten Sie wirklich noch niemals den Fall meines Todes und mein Testament in den Kreis Ihrer Erwägungen gezogen haben?“ unterbrach sie der Freiherr – er ließ seinen vorhin unterdrückten Sarkasmus jetzt vollständig den Zügel schießen.

„Aber, bester Schwager, wie können Sie so etwas nur glauben!“ rief die Dame mit beleidigter Miene.

Er beachtete den Empörungsschrei nicht im Geringsten, sondern fuhr ruhig fort:

„Hoffentlich haben Sie nicht mit Gabriele darüber gesprochen“ – er wußte nicht, daß dies beinahe täglich geschah – „ich wünsche nicht, daß ihr jetzt schon gelehrt wird, sich als reiche Erbin zu betrachten, und noch weniger wünsche ich, daß das siebenzehnjährige Mädchen mein Testament und mein Vermögen zum Gegenstand von Berechnungen macht, die ich von – anderer Seite sehr natürlich finde.“

Die Baronin stieß einen Seufzer aus. „Immer und ewig finde ich bei Ihnen Mißdeutungen. Sie verdächtigen sogar die Regungen der Mutterliebe, die ohne eigenen Wunsch nur für die Zukunft ihres einzigen Kindes bangt.“

„Durchaus nicht,“ sagte Raven ungeduldig und offenbar gelangweilt von dem Gespräche. „Sie hören ja, daß ich diese Regungen für sehr natürlich halte, und deshalb wiederhole ich Ihnen meine Zusicherung. Da das gesammte Vermögen von meinem Schwiegervater stammt, so soll es auch dereinst an seine Enkelin fallen. Wenn sich Gabriele, wie es wahrscheinlich ist, noch bei meinen Lebzeiten vermählt, so werde ich für die Mitgift Sorge tragen; nach meinem Tode – sie ist, wie gesagt, meine alleinige Erbin.“

Der Nachdruck, mit dem er das Wort hervorhob, zeigte der Baronin, daß sie für ihre Person nichts zu hoffen habe; indessen war mit der Zukunft der Tochter ja auch die ihrige gesichert und damit ihr Hauptzweck erreicht. Die kaum durch äußere Höflichkeitsformen verschleierte Verachtung, mit welcher der Freiherr sie behandelte und die der feine Instinct Gabrielens sogleich beim ersten Empfange herausgefunden, wurde von der Mutter entweder nicht gefühlt oder nicht beachtet. Sie war sich bewußt, ihrem Schwager ebensowenig Sympathie entgegen zu bringen, wie er ihr, und sie beugte sich nur der Nothwendigkeit, wenn sie seine Schroffheit mit der äußersten Liebenswürdigkeit vergalt, aber die Aussicht, an der Spitze eines so glänzenden Haushaltes zu stehen, wie der Gouverneur ihn führte, als seine Verwandte hier in R. die erste Rolle zu spielen und in allen Cirkeln den Vortritt zu haben, söhnte sie einigermaßen mit dieser Nothwendigkeit aus.

Als Raven einige Minuten später durch das Vorzimmer schritt, dessen Fenster nach derselben Seite hin lagen, hielt er noch einen Augenblick inne und warf einen flüchtigen Blick hinab.

„Daß das Kind auch solchen Eltern und solcher Erziehung anheimfallen mußte! sagte er halblaut. Wie lange wird es dauern, so ist Gabriele eine Kokette, wie ihre Mutter, die nichts weiter kennt, als Toilette, Intriguen und Salonklatschereien – schade um das Kind!“

Die Regierungskanzlei, nach welcher der Gouverneur sich jetzt begab, lag, wie schon erwähnt, im unteren Stockwerke des Schlosses. Er pflegte die meisten Sachen zwar in seinem eigenen Arbeitszimmer zu erledigen, betrat aber sehr oft die Kanzlei und die übrigen Verwaltungsbureaux. Die dort arbeitenden Beamten waren nie sicher vor dem stets plötzlichen und unerwartete Erscheinen ihres Chefs, dessen scharfen Augen nie die geringste Unregelmäßigkeit entging. Wer sich auf einer solchen betreffen ließ, mußte, gleichviel, ob seine Stellung hervorragend oder untergeordnet war, die schärfste Zurechtweisung von Seiten des Chefs hinnehmen, der Alles so viel wie möglich persönlich leitete und die eiserne Disciplin, welche seine Verwaltung auszeichnete, auch auf seine Bureaux übertrug.

Die Bureaustunden hatten längst begonnen, und die Beamten waren sämmtlich auf ihren Plätzen, als der Freiherr eintrat und mit leichtem Grüßen durch die Räume schritt. Einzelne der Abtheilungen überflog er nur mit einem kurzen, prüfenden Blicke; bei anderen blieb er stehen, warf hier eine Frage, dort eine Bemerkung hin und ließ sich hin und wieder ein Schriftstück reichen. Sein Verkehr mit den Untergebenen war gemessen, aber höflich, und doch sah man es den Gesichtern der Herren an, wie sehr sie das Stirnrunzeln des Chefs fürchteten. Als dieser das letzte Zimmer betrat, erhob sich ein älterer Herr, der dort allein arbeitete, ehrfurchtsvoll von seinem Pulte.

Es war eine lange, hagere Gestalt mit steifer Haltung und einem faltenreichen, sehr würdevollen Gesichte. Das graue Haar war mit größter Sorgfalt geordnet, und dieselbe peinliche Sorgfalt verrieth sich auch in dem feinem schwarzen Anzuge, der nicht das geringste Fältchen oder Stäubchen zeigte, während eine hohe weiße Halsbinde von ganz ungewöhnlichen Dimensionen ihrem Träger etwas ungemein Feierliches gab.

„Guten Morgen, lieber Hofrath!“ sagte der Freiherr mit mehr Freundlichkeit, als sonst in seiner Art lag, während er zugleich mit einer Handbewegung den Genannten aufforderte, ihn in das seitwärts liegende Cabinet zu folgen, wo er gewöhnlich die einzelnen Beamten empfing. „Ich bin froh, daß Sie wieder zurück sind; ich habe Sie in den wenigen Tagen Ihrer Abwesenheit recht vermißt.“

Hofrath Moser, der Chef der Bureauverwaltung, nahm mit sichtlicher Genugthuung dieses Zeugniß seiner Unentbehrlichkeit hin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_177.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2016)