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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Lourdes wie in Marpingen wirklich auffällige Heilungen sich zugetragen haben. Damit aber ist noch nicht im mindesten eine übernatürliche Wunderkraft erwiesen, welche dabei im Spiele sein soll; der Vorgang ist ganz wohl auf andere Weise erklärbar. Verhältnißmäßig sind solcher Heilungen doch nur sehr wenige. Dies geht schon daraus hervor, daß man so viel Aufhebens davon macht, offenbar zum Behufe der Reclame, während man alles Uebrige verschweigt. Man sieht sogleich, daß es sich um Ausnahmen handelt und daß der größte Theil der ankommenden Kranken ungeheilt von dannen geht. Einzelne Curen zunächst, die wie ein Wunder erscheinen, gelingen auch Aerzten, gelingen Pfuschern, Hirten, alten Weibern etc., welche gewisse Mittel kennen und manchmal mit Nutzen anwenden. Aehnliches geschieht an solchen Wundercurorten. Abgesehen vom Gebrauche des Wassers, ist die durch den Glauben an die Nähe einer übernatürlichen Macht erregte Phantasie, ist die hochgespannte Erwartung, insbesondere aber die Glaubenszuversicht wohl geeignet, bedeutende Wirkungen im körperlichen Organismus hervorzubringen und dadurch manchmal ein Uebel zu heben oder zu erleichtern – oder wenigstens für den Augenblick oder für kurze Zeit die Einbildung oder Täuschung hervorzubringen, als ob das Uebel beseitigt wäre. Von dieser letzteren Art mögen wohl die meisten der sogenannten Wunderheilungen sein. Dann werden sie registrirt und ausposaunt, als wären es wirkliche, dauernde Heilungen. Stellt sich aber alsbald das Uebel wieder ein oder hört die Erleichterung auf und erweist sich somit die wunderbare Heilung als trügerisch, so wird dies eben verschwiegen und nicht weiter beachtet. Die Betheiligten selbst werden es meistentheils nicht bekannt machen, theils aus Scham darüber, daß sie nicht wirklich unter die Begnadigten gehören, theils aus Furcht vor der fanatisirten, wundersüchtigen Menge und vor den Geistlichen, oder auch um dem Gedeihen des Wundercurortes keinen Eintrag zu thun; endlich wohl auch, weil sie die „Mutter Gottes“ etwa zu beleidigen fürchten, wenn sie öffentlich kund thun, daß sie nicht ernstlich geheilt worden seien. Die Seelen der Gläubigen sind eben in solchen Fällen schon so gefangen und in Banden, daß ein unbefangenes Ueberlegen und freies Handeln von ihnen nicht mehr zu erwarten ist.

Neben den verhältnißmäßig nur Wenigen, die wirklich Heilung finden, und zwar auf jene ganz natürliche Weise, ohne dazu einer übernatürlichen Macht oder einer realen „Mutter Gottes“ zu bedürfen, da die Einbildung davon schon genügt, bleibt der weitaus größte Theil der Kranken ungeheilt und unerleichtert. In Frankreich hat man sogar eine besondere Phrase erfunden, um diese Ungeheilten zu trösten. Man sagt ihnen, wenn sie in Lourdes auch nicht Heilung ihrer leiblichen Gebrechen erlangt, so hätten sie doch wenigstens den Frieden ihrer Seele gefunden, der ja weit mehr werth sei, als die Gesundheit des Leibes. Gewiß! Aber dies ist doch kein Wunder, und nur um der Wunder willen wird ja der Ort gepriesen und nur durch sie – die wunderbaren leiblichen Heilungen – will man beweisen, daß eine übernatürliche Macht, daß Maria, die „Unbefleckte Empfängniß“, hier sei und hier wirke.

Um erlangten Seelenfriedens willen entsteht wahrlich kein berühmter Wallfahrtsort! Eben um der geringen Zahl der Heilungen willen, während die Mehrzahl ungeheilt bleibt – beweisen diese Heilungen nichts, da sie zufällig sind und aus natürlichen Ursachen stammen können, also nicht nothwendig eine übernatürliche Macht voraussetzen. Außerdem aber müssen auch die Nichtheilungen in Betracht gezogen werden, da sie direct gegen die Wirksamkeit einer übernatürlichen Kraft Zeugniß geben. Zwar möchte man geneigt sein hier einzuwenden, daß es doch wohl im Belieben oder im Ermessen der „Mutter Gottes“ stehen müsse, den Einen zu helfen und den Uebrigen die Hülfe zu versagen, sodaß immerhin die Wenigen übernatürlich geheilt sein könnten und die größere Zahl der Nichtgeheilten kein Zeugniß, keine Instanz gegen die Thatsächlichkeit einer wirkenden Wunderkraft wäre. Vergeblich! Da die wenigen sogenannten Wunderheilungen keine unbedingte Beweiskraft für das Wirken einer übernatürlichen Macht besitzen, weil sie auch auf andere, auf natürliche Weise erklärt werden können, so hat man kein Recht mehr, den Nichtheilungen eine bloße, gänzlich unbewiesene Möglichkeit der Wunderwirkung entgegen zu stellen. Außerdem aber: wozu denn eine so große Veranstaltung mit der Erscheinung der „Mutter Gottes“ selbst, wozu die Erfindung des Wunderwassers etc., wenn doch nur Einige geheilt werden sollten, während man die allerkolossalste Reclame macht und von überall her Pilger und Kranke zusammentrommelt! Alles, damit ein paar Schaustücke geliefert werden, wie von einem Tausendkünstler auf einem Jahrmarkte, während die Mehrzahl der Hülfsbedürftigen vergeblich Zeit, Mühe und Kosten angewendet hat? – Im Uebrigen ist dem noch beizufügen, daß die wenigen Geheilten oder Erleichterten selbst den vielen Ungeheilten gegenüber kaum ernstlich glauben dürften, daß sie wirklich direct durch Wundermacht geheilt seien, während den Anderen dies versagt geblieben – wofern sie nur einigermaßen noch gesunden Sinn und Bescheidenheit bewahrt hätten und nicht durch falsche Vorspiegelungen schon ganz verblendet und verbildet wären.

Doch nehmen wir einmal an, die Zeugnisse über die verhältnißmäßig wenigen wirklichen Heilungen gelten in der That für eine vorhandene göttliche oder übernatürliche Wunderkraft, oder speciell für eine thatsächliche Wirksamkeit der „Mutter Gottes“, – dann muß man doch billiger Weise ähnliche Zeugnisse für erlangte wunderbare Hülfe von Seiten der Gottheit auch bei anderen Religionen, insbesondere bei den sogenannten heidnischen Völkern gelten lassen. In neuerer Zeit wurden z. B. auf der Stätte des alten Carthago Tausende von Dankeszeichen frommer Menschen ausgegraben, Dankeszeichen für wunderbare Hülfe, die sie von der Göttin Tanoth oder dem Gotte Baal-Hammon erlangt haben wollen. Könnte diese Sache nun überhaupt durch solche Zeugnisse entschieden werden gegenüber vernünftigem Denken und wissenschaftlicher Einsicht, dann müßte angenommen werden für’s Erste, daß z. B. Tanoth wirklich eine Göttin oder eine übernatürliche Macht war ähnlich der wunderthätigen Madonna, und zweitens, daß durch sie wirklich manchen Menschen durch wunderbares, direct göttliches Eingreifen Hülfe gebracht wurde; denn menschliche Zeugnisse von den Betheiligten selbst liegen doch hier so gut vor, wie von den Wunderheilungen etc., die an christlichen Wallfahrtsorten oder Wunderstätten geschehen sollen.

In den Tempeln des Aeskulap in Epidauros und Pergamos, wo die Kranken schlafen mußten, um auf übernatürliche Weise im Traume vom Gotte das Heilmittel zu erfahren, waren Tausende von Votivtafeln aufgehängt, welche Zeugniß für die vom Gotte erlangten Heilungen enthielten. Haben also solche Zeugnisse wirklich ein Gewicht, so muß angenommen werden, daß Aeskulap (Asklepios) wirklich ein Gott war und wirkliche Wunderheilungen vollbrachte an seinen Verehrern. Freilich wurden nicht Alle, die kamen, geheilt, und schon aus dem Alterthume wird berichtet, daß, als einst der Priester einen Fremden auf die vielen Votivtafeln aufmerksam machte als Zeugnisse für die Wunderkraft des Gottes, dieser einfach entgegen fragte, wo denn die Tafeln Derer seien, die nicht geheilt wurden. Die Nichterfolge pflegte man damals ebenso zu verschweigen, wie jetzt an den Wunderorten.

Allerdings hatte man in früherer Zeit einen leichten Ausweg aus dieser Klemme. Die „Rechtgläubigen“ behaupteten einfach, die Wunder bei den Heiden seien durch den Teufel geschehen, dem ja nach christlichem Glauben auch die übernatürliche Kraft zukomme, in den Lauf der Natur ändernd einzugreifen. Wir zweifeln nicht, daß es auch jetzt noch viele Fromme oder Kluge giebt, die sich auf diese Weise aus der Schwierigkeit zu ziehen suchen. Allein dem ist einfach zu entgegnen, daß dies eben nur eine menschliche und unbewiesene Behauptung ist, welcher die Behauptung des Gegentheils von Seiten anderer Menschen mit gleichem Rechte gegenüber treten kann. Und jene „rechtgläubigen“ müssen es sich gefallen lassen, daß, wenn sie ihrerseits die bei anderen Religionen angenommenen Wunder für Teufelswerk erklären, die Bekenner dieser wiederum die von ihnen geglaubten Wunder ebenfalls als solches bezeichnen. Es sind beiderseits nur menschliche und unbewiesene Behauptungen, die als solche gleich berechtigt oder gleich unberechtigt sind. Wollte man dies nicht gelten lassen, so müßte man auf Seite der Rechtgläubigen annehmen, daß den Andersgläubigen nicht die gleichen Menschenrechte zukommen, daß sie also nur als untergeordnete, gleichsam untermenschliche Wesen zu betrachten und zu behandeln seien, als Wesen, die durch Geistesschwäche und Herzensbosheit Kinder des Teufels geworden, und die man entweder wie Narren oder wie Verbrecher behandeln und in aller Weise unterdrücken oder geradezu vernichten müsse.

Die Religionsgeschichte, insbesondere auch die Geschichte des Christenthums zeigt, daß die Menschen und Völker verschiedenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_165.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)