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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


aufzugeben. Ueberdies war sie schon ungewöhnlich lange ernst gewesen und kehrte nun schleunigst zu dem alten Uebermuthe zurück.

„Mama, ich glaube, Du fürchtest Dich im vollen Ernste vor diesem Währwolf von Onkel,“ rief sie fröhlich auflachend. „Da bin ich tapferer. Ich trete ihm gerade unter die Augen, und – verlaß Dich darauf! – mich verschlingt er nicht.“




Das Regierungsgebäude von R. war ein ehemaliges Schloß und lange Jahre hindurch der Wohnsitz einer fürstlichen Familie gewesen. Später war es an den Staat gefallen und diente jetzt zum Sitz der Provinzialregierung und zum Aufenthalte des jeweiligen Gouverneurs. Das große, weitläuftige Gebäude lag auf einer Anhöhe, oberhalb der Stadt, und hatte sich trotz seiner jetzigen Bestimmung noch einen Theil seines mittelalterlichen Ansehens bewahrt. Die vorspringenden Thürme und Erker und die hohe, die ganze Umgebung beherrschende Lage gaben ihm etwas Malerisches. Die alten Mauern und Befestigungen waren freilich schon längst der Neuzeit gewichen, aber dafür umrauschte jetzt ein ganzer Wald prächtiger Bäume den Schloßberg, an dessen Vorderseite ein breiter, bequemer Weg in die Stadt hinunterführte. Von den Fenstern des Schlosses, das sich stolz und mächtig über die Baumwipfel emporhob, genoß man den vollen Blick über die Stadt und das ganze weite Thal, das die Berge wie mit einem Kranze umgaben. Das Hauptgebäude war ausschließlich zur Verfügung des Gouverneurs gestellt, der das obere Stockwerk bewohnte, während sich in dem unteren seine Kanzlei befand; die beiden Seitenflügel enthielten die übrigen Bureaus und die Dienstwohnungen einzelner Beamten. Trotz dieser Einrichtung war auch dem Inneren sein alterthümlicher Charakter geblieben, der sich nicht verwischen ließ, weil er in der Bauart lag. Die gewölbten Zimmer mit ihren tiefen Thür- und Fensternischen gehörten noch dem vorigen Jahrhunderte an; lange, düstere Bogengänge und Galerien kreuzten sich in den verschiedensten Richtungen; hallende Steintreppen führten von einem Stockwerke in das andere, und der alte Schloßhof wie der ehemalige Schloßgarten waren noch ganz in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten. Jedenfalls war und blieb das „Schloß“, wie es kurzweg in der ganzen Umgegend genannt wurde, eine Zierde der Stadt.

Der jetzige Gouverneur bekleidete schon seit einer ganzen Reihe von Jahren seinen Posten. Hätte man nicht gewußt, daß er der Sohn eines mittellosen, früh verstorbenen Subalternbeamten war, man würde an seiner bürgerlichen Herkunft gezweifelt haben, denn sein Auftreten und seine Art zu leben waren so durch und durch aristokratisch, wie der Eindruck seiner Persönlichkeit. Wie Raven eigentlich der Günstling des damals allmächtigen Ministers geworden war, dem er seine spätere Laufbahn verdankte, das wußte Niemand. Vermuthlich hatte der Scharfblick des Ministers in dem jungen Manne eine ungewöhnliche Begabung entdeckt. Einige wollten auch wissen, daß noch andere geheime Beweggründe dabei mitgewirkt hätten; genug, er wurde urplötzlich zum Secretär Seiner Excellenz ernannt und hatte in dieser Eigenschaft nun freilich mehr Gelegenheit, seine Fähigkeiten zu entwickeln, als in der bisherigen untergeordneten Stellung. Der Secretär avancirte bald genug zum Vertrauten seines Chefs, der ihn bei jeder Gelegenheit bevorzugte und beförderte und ihm sogar seinen Familienkreis öffnete. Die unteren Stufen des Beamtenthums wurden rasch überwunden, und eines Tages wurden die vornehmen Kreise der Residenz mit der anfangs kaum geglaubten Nachricht überrascht, daß die älteste Tochter des Ministers sich dem jungen Ministerialrath verlobt habe. Allerdings erfolgte bald darauf dessen Erhebung in den Freiherrnstand, und damit war ihm die große Carrière geöffnet.

Der Schwiegersohn des einflußreichen Mannes fand überall die Bahn frei, aber es war nicht dies allein, was ihn so schwindelnd schnell emportrug. Seine in der That glänzende Begabung schien jetzt erst ihr eigentliches Feld gefunden zu haben und zeigte sich bald in einer Weise, die jede Begünstigung von anderer Seite überflüssig machte. Schon nach wenigen Jahren fand man die „Unbegreiflichkeit“ des Ministers, der, statt sich dieser Heirath zu widersetzen, sie begünstigt hatte, vollkommen begreiflich; er kannte seinen Schwiegersohn; er wußte, was von dessen Zukunft zu erwarten war, und seine Tochter spielte als Frau von Raven jedenfalls eine glänzendere Rolle, als ihre Schwester, die einen Baron von altem Adel, aber sehr unbedeutender Persönlichkeit geheirathet hatte.

(Fortsetzung folgt.)



Eine lachende Großmacht.
Von Albert Traeger.

Ebenso zudringlich wie unbeachtet brummte der Mont Valérien den Grundbaß zu dem ausgelassenen Treiben des Vorpostenlagers, das in allen deutschen Mundarten den großmäuligen Franzosen niederzutoben bemüht war. Abseits von dem Getümmel stand ich vor einem blutjungen Bürschchen. In kleidsamer, fast koketter, aber nicht ganz dienstmäßiger Uniform lehnte der Kleine nachlässig an einem Baume und begleitete seine Flüsterworte bald mit einem schelmischen Augenaufschlagen, bald mit einem leisen Wirbel auf der zierlichen Trommel. Plötzlich schlägt eine Bombe zwischen uns nieder; ich trete einen Schritt zurück – der jugendliche Held aber, in der Behandlung dieser Geschosse geübter, schiebt sie nachlässig mit der Stiefelspitze bei Seite. Im Lager furchtbarer Tumult: „ein Ausfall!“ Alles stürzt an die Gewehre und stiebt aus einander. Eiligst nähert sich uns ein etwas aufgeregter Civilist und mahnt in verbindlichster Weise: „Fräulein Wegner, Ihr Stichwort!“ Augenblicklich ist auch der kleine Tambour verschwunden, und noch ehe ich ihm nachblicken kann, tönt eine neue Salve an mein Ohr, ohne jeden Pulverdampf, dagegen von herzlichstem, vielhundertstimmigem Lachen abgelöst.

Es war dies der letzte glorreiche Winterfeldzug des Woltersdorff-Theaters, die neuentdeckte jüngste Soubrette Berlins an der Spitze. Weit über hundert Schlachten haben „Wir Barbaren“ in ununterbrochener Reihenfolge allen Sorgen und Bekümmernissen der Daheimgebliebenen mit glücklichstem Erfolge geliefert und die Waffen erst vor den heimkehrenden Siegern gestreckt. Frankreich hat sich längst von seinen Niederlagen erholt, jenes Kunstinstitut von seinen Erfolgen niemals wieder; die so reichlich erhobene Kriegssteuer ist, gleich den Milliarden, ohne Spur und Segen, den Weg alles Geldes gegangen, sein glänzender Generalstab in fremden Diensten zerstreut, und der weibliche Schlachtenlenker hat soeben mit seinem jetzigen Kriegsherrn auf’s Neue capitulirt, unter Bedingungen, die einer Dotation nicht ganz unähnlich sehen.

So bleibt sie den Berlinern erhalten, und in einer Zeit, die an allen Autoritäten rüttelt, wenigstens ein Gebiet von dem Kampfe um die Erbfolge verschont. Unbestreitbar aber gehört sie zu den regierenden Häuptern, die erste Soubrette des Wallner-Theaters, und wenn sie auch allabendlich dem allgemeinen Stimmrechte sich unterwirft, so ist dies doch nur ein Scheinconstitutionalismus, wie mancher andere auch, und ihre Herrschaft, wenn einmal anerkannt, eine der absolutesten. Und gerade jetzt ist dieser Posten ein ungemein wichtiger und schwieriger. Denn auch dieses Reiches sonst so fest und sicher abgesteckte Grenzen sind flüssig geworden, und Werdendes drängt mit allen Unbequemlichkeit des Gährungsprocesses nach neuen Formen.

Die Posse, das Kind des unvergeßlichen Kalisch, ist ein abgelebter Greis geworden, den das neue Geschlecht nicht mehr versteht, und der gerade da, wo er zu jugendlichen Sprüngen sich aufraffen will, seine Altersschwäche auch dem blödesten Blicke bloßstellt. Es hängt dies ganz untrennbar mit unserer politischen Entwicklung zusammen. Der Alte schlug einst mit dem erwachenden Volksgeiste die Augen auf und erreichte seine volle Manneskraft in der Conflictszeit, als er am Abend, zwischen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_162.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2016)