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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Chef? So oft sein Name genannt wird, verrathen Sie eine Bitterkeit, die unmöglich nur der politischen Gegnerschaft entstammen kann. Sie scheinen ihn genau zu kennen.“

Brunnow’s Lippen zuckten. „Wir waren einst Jugendfreunde,“ entgegnete er dumpf.

„Unmöglich!“ rief Georg. „Sie und –“

„Freiherr Arno von Raven Excellenz, Gouverneur der -schen Provinz und intimer Freund und Günstling der jetzigen Machthaber,“ vollendete der Doctor, einen scharfen, hohnvollen Nachdruck auf jedes einzelne Wort legend. „Das befremdet Sie, nicht wahr?“

„Allerdings; ich ahnte nichts von einer solchen Beziehung.“

„Es liegt auch fast ein halbes Menschenalter dazwischen. Damals hieß er freilich noch einfach Arno Raven und war arm und unbekannt wie ich selber. Wir lernten uns in einer stürmischen, mächtig bewegten Zeit, inmitten der Partei kennen, der wir Beide angehörten. Raven mit seinen glänzenden Geistesgaben, seiner rastlosen Energie hatte sich bald genug zu unser Aller Führer aufgeworfen. Wir folgten ihm mit blindem Vertrauen, ich vor Allem, denn ich liebte ihn, wie ich nichts wieder auf der Welt geliebt habe, nicht einmal mein Weib und Kind. Ihm galt die ganze Schwärmerei meiner Jugend; er war mein Vorbild, zu dem ich mit glühender Bewunderung aufblickte, mein Ideal, mein Alles – bis zu dem Tage, wo er mich und uns Alle verrieth und verließ, wo er die Ehre seinem Ehrgeize opferte und sich mit Leib und Seele unseren Feinden verkaufte, indem er uns dem Verderben preisgab. – Menschenfeindlich nennen mich die klugen Leute, die nie eine Enttäuschung erfahren, nie eine Verzweiflungsstunde durchlebt haben. Wenn ich es bin, so bin ich es an dem Tage geworden, wo ich mit dem Freunde auch den Glauben an die Menschheit verlor.“

Er wandte sich in stürmischer Bewegung ab. Man sah es, wie die Erinnerung noch jetzt das ganze Wesen des Mannes in all seinen Tiefen aufwühlte.

„Also ist doch etwas an jenen Gerüchten, die von irgend einem dunklen Punkte in der Vergangenheit des Freiherrn sprechen,“ bemerkte Georg leise. „Ich vernahm wohl hin und wieder Andeutungen, aber Niemand wußte etwas Gewisses darüber. Die Sache ist jedenfalls nie in die Oeffentlichkeit gelangt, denn man kennt Raven nur als den energischen, rücksichtslosen Vertreter der Regierung.“

„Die Renegaten sind immer die schlimmsten Verfolger des verlassenen Glaubens,“ sagte Brunnow finster. „Und in Arno Raven lag von jeher ein verhängnißvolles Element, ein glühender, verzehrender Ehrgeiz. Das war die eigentliche Triebfeder seines Charakters, und das hat ihn auch schließlich zu Falle gebracht. Er träumte immer nur von Macht und Größe; er wollte herrschen, gebieten um jeden Preis, und das ist ihm nun ja auch geworden. Seine Carrière ist geradezu beispiellos. Aus Armuth und Dunkelheit stieg er empor, von Stufe zu Stufe, von Auszeichnung zu Auszeichnung. Er wurde der Schwiegersohn des Ministers, dessen bevorzugter Günstling er stets gewesen, ließ sich in den Freiherrnstand erheben und ist jetzt der fast allmächtige Gouverneur einer der ersten Provinzen des Landes. Er steht auf der einst nur geträumten Höhe, aber ich, den er in Kerker und Verbannung gejagt, der auf ein Leben voll der herbsten Enttäuschungen zurückblickt und an der Schwelle des Greisenalters noch mit Existenzsorgen ringen muß – ich tausche nicht mit dieser Höhe. Sie hat ihm seine Ehre gekostet.“

Der Sprechende war furchtbar erregt; er brach ab und ging einige Male auf und nieder, um seiner Erregung Herr zu werden. Endlich trat er wieder zu Georg, der schweigend vor sich niedersah.

„Ich habe seit Jahren diesen Punkt nicht berührt,“ begann er von Neuem. „Aber Ihnen war ich Offenheit schudig. Sie sind keines von jenen blinden, gefügigen Werkzeugen, wie Raven sie braucht, wie er sie allein um sich duldet, und ich fürchte, es wird eine Stunde kommen, wo Sie gezwungen sein werden, ihm den Gehorsam zu verweigern, wenn Sie anders Ihre Ueberzeugung und Ihre Mannesehre retten wollen. Was dann aus Ihnen wird, ist freilich eine andere Frage. Stehen Sie fest, Georg! Durch das Gefühl der Abneigung und Gegnerschaft, das Sie für ihn hegen, klingt etwas wie Bewunderung dieses Mannes, und ich begreife das nur zu gut. Er übte von jeher eine fast dämonische Macht über Alles, was mit ihm in Berührung kam. Auch Sie können sich ihr nicht ganz entziehen, und darum mußte ich Sie über diesen Raven aufklären. Sie wissen jetzt, was an ihm ist.“

„Dachte ich es doch; da stecken sie schon wieder mitten in der Politik oder in sonstigen unerquicklichen Debatten!“ sagte eine Stimme hinter den Beiden. „Ich suche Dich im ganzen Hause, Georg. – Guten, Tag, Papa!“

Der Sprechende, der jetzt gleichfalls in die Veranda trat, war einige Jahre jünger als Georg, aber größer und stärker gebaut, eine frische, kräftige Erscheinung mit offenen Gesichtszügen, klaren Augen und dichtem, blondem Haar. Er warf einen prüfenden Blick auf das noch immer dunkel geröthete Antlitz seines Vaters und fuhr dann fort:

„Du solltest Dich beim Gespräche nicht so aufregen, Papa. Du weißt doch, wie nachtheilig das stets auf Dich wirkt, und überdies hast Du heute schon angestrengt gearbeitet, wie ich sehe.“

Damit trat er zu einem mit Büchern und Papieren bedeckten Tische, der in der Veranda stand, und begann in den Schriften zu blättern.

„Laß das liegen, Max!“ sagte der Doctor ungeduldig. „Du bringst mir Unordnung in die Manuscripte, und Du giebst Dich ja doch nicht mit tieferen wissenschaftlichen Studien ab.“

„Weil mir die Zeit dazu fehlt,“ erwiderte Max, die Papiere ruhig wieder hinlegend. „Ein junger Assistenzarzt im Hospital kann nicht tagelang über den Büchern sitzen. Du weißt ja, daß ich alle Hände voll zu thun habe.“

„Die Zeit würde sich schon finden,“ warf Brunnow ein.

„Was Dir fehlt, ist die Lust.“

„Meinetwegen auch die Lust! Mein Studium ist die Praxis, und ich denke damit ebenso weit zu kommen.“

„So weit Dein Ehrgeiz reicht, allerdings,“ in dem Tone des Vaters verrieth sich eine unverkennbare Geringschätzung. „Du wirst Dir jedenfalls eine ausgebreitete Praxis gründen und Deinen Beruf als ein einträgliches Handwerk betrachten. Ich zweifle durchaus nicht daran.“

Max kämpfte augenscheinlich mit einer aufsteigenden Gereiztheit; dennoch entgegnete er mit ziemlicher Ruhe: „Ich werde mir allerdings so bald wie möglich eine eigene Praxis gründen. Du hättest das schon vor zwanzig Jahren gekonnt, zogst es aber vor, medicinische Werke zu schreiben, die Dir neben dem geringen Honorare höchstens die Anerkennung einzelner Fachgenossen eintragen. Der Geschmack ist verschieden.“

„So verschieden wie unsere Auffassung des Lebens überhaupt. Du weißt freilich nicht, was es heißt, für die Wissenschaft zu leben und sich ihr zu opfern.“

„Ich opfere mich für Niemand,“ sagte Max trotzig. „Ich fülle meinen Platz im Leben gewissenhaft aus und denke damit genug zu thun. Du liebst die nutzlosen Aufopferungen, Papa – ich nicht.“

„Lassen Sie doch den unverbesserlichen Realisten, Herr Doctor!“ mischte sich Georg ein, den der gereizte Ton der Beiden eine Scene fürchten ließ, wie sie zwischen Vater und Sohn nicht eben selten war. „Ich habe es längst aufgegeben, ihn zu bekehren. Jetzt aber wollen wir Beide Sie nicht länger stören. Max versprach mir schon heute Morgen, mich nach seiner Rückkehr auf einem Spaziergange nach dem Wäldchen zu begleiten.“

„Jetzt um die Mittagsstunde?“ fragte der Doctor befremdend.

„Weshalb nicht später?“

In dem Gesichte des jungen Winterfeld zeigte sich eine leichte Verlegenheit, die er jedoch rasch bemeisterte. „Ich habe später noch mit den Vorbereitungen zur Abreise zu thun und möchte gern noch einmal den Blick auf den See und die Berge genießen. Das Scheiden wird mir schwer genug.“

„Das glaube ich,“ sagte Max mit einer eigenthümlichen, fast boshaften Betonung, brach aber ab, als er dem halb unwilligen, halb bittenden Blicken seines Freundes begegnete.

Brunnow schien der Sache keine Wichtigkeit weiter beizulegen; er winkte einen flüchtigen Abschiedsgruß und trat wieder an seinen Arbeitstisch, während die beiden jungen Männer durch den Garten schritten und, nachdem Max die Gitterthür desselben geöffnet hatte, einen Fußweg einschlugen, der dicht am See entlang führte. Eine Zeitlang schritten sie schweigend vorwärts.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_144.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2016)